Ist es wirklich so einfach? Liegt der Schlüssel zu einem erfüllten Leben und zur Erleuchtung darin, nicht von der Gegenwart davonzulaufen, sondern tief in ihr verwurzelt zu sein? Den gegenwärtigen Moment ehren, ‚Ja‘ zu ihm sagen, ihm nicht widerstreben? Eckhart Tolle, ein Meister der Gegenwart, formuliert auf einem Retreat in Rishikesh in Indien alte Weisheit neu und rückt Erleuchtung in greifbare Nähe
Es war Anfang der 60iger Jahre. Der Dalai Lama war erst vor kurzem aus Tibet nach Indien geflohen. Er gab zum ersten Mal Besuchern aus dem Westen eine Audienz. Einer von ihnen brachte vor, dass er unter einem Mangel an Selbstwertgefühl litt. „Worunter leidest du?“ fragte der Dalai Lama nach. Der Besucher versuchte es zu erklären, doch der Dalai Lama konnte ihm nicht folgen. Schließlich ging er von einem zum andern in der Gruppe und fragte, ob sie auch dieses Gefühl kannten. Fast jeder sagte ja. Der Dalai Lama staunte. Ihm war es völlig fremd, wie sich jemand minderwertig fühlen könnte.
Eckhart Tolle erzählte diese Geschichte auf dem Retreat in Rishikesh und fügte hinzu: Selbst die hässlichste Katze hat keine Probleme mit ihrem Selbstwertgefühl. Warum also ausgerechnet wir Menschen? Vor allem wir moderne Menschen, die überwiegend im Kopf leben?
Der Grund ist, dass wir überwiegend im Kopf leben. Wir identifizieren uns nämlich nicht mit unserem Sein, was natürlich wäre, sondern mit unserem Denken und Fühlen. Wir schaffen sozusagen von Kindheit an ein geistiges Bild von uns aus dem, was wir denken, fühlen und tun – und glauben dann, dass wir dieses Bild sind. Das Ergebnis ist ein falsches Selbst, das in der Tat nicht viel wert ist. Es lässt uns unser wahres Wesen vergessen und zwingt uns unaufhörlich zu denken, denn dieses Phantom Selbst oder Ego, wie Eckhart es nennt, lebt von Gedanken. Es ist ein reines Gedankenprodukt. Und es liebt Konflikte, Drama und Feinde, auch wenn es behauptet, Frieden zu wollen. Konflikte und Feinde geben ihm nämlich Gelegenheit, sich als Einzelkämpfer zu fühlen und groß und stark zu werden. Außerdem hält sich das Ego fast nur in der Vergangenheit oder Zukunft auf, denn es definiert sich über die Vergangenheit und hofft auf Erfüllung in der Zukunft. Die Gegenwart betrachtet es als ein unerwünschtes Hindernis auf dem […]