Zweiter Teil der Serie: Der „Yoga der Tat“ ist einer der Wege zur Selbsterkenntnis, der in der Bhagavad-Gita klar und zugleich tief poetisch beschrieben wird. Hier finden wir Antwort auf die gerade heute so wichtige Frage, wie wir jede Handlung und das scheinbar Profane heiligen – und so jeden Moment zur spirituellen Praxis machen.
Auf meiner ersten Indienreise vor einigen Jahren hörte ich in einem Ashram im Süden zum ersten Mal von „Karma-Yoga“. Viele Reisende aus der ganzen Welt kamen an diesem schönen Ort unter Palmen zusammen, um mehr über Yoga zu lernen und ihn natürlich auch zu praktizieren. Jeder Besucher, der in den Ashram kam, stimmte zu, der täglichen Routine zu folgen und sich außerdem durch Karma-Yoga mit einzubringen. So gab und gibt es dort und auch in vielen weiteren Gemeinschaften rund um den Globus Aufgaben, die erfüllt werden dürfen: Blumen gießen, Essen kochen und ausgeben, Geschirr spülen, die Wege kehren. Über meine Aufgabe freute ich mich riesig, denn ich durfte am Nachmittag für alle den Tee ausschenken. „Jackpot“, dachte ich, denn ich kam weder ins Schwitzen noch musste ich mich sonst wie sonderlich anstrengen. Und alle schenken mir ein Lächeln, wenn ich ihnen ihre Tasse auffüllte. Der meist gefürchtete Karma-Job im Ashram war es, alle Mülltonnen zu leeren und sauber zu machen. Zum Glück ging dieser Kelch an mir vorbei, empfand ich damals. An einem Nachmittag sagte mir die Karma-Yogini, die sich auf ihrem letzten Müll-Rundgang die Hände schmutzig machte: „Ich bin hier hergekommen, um Yoga zu machen, und nicht, um Müll einzusammeln“ …
Weder ich noch sie verstanden zu dem Zeitpunkt das Prinzip und die Schönheit von Karma-Yoga, dem Yoga der Tat oder Yoga der Handlung, der unter anderem in der Bhagavad-Gita beschrieben wird. Die Weisheiten darüber beinhalten die Antwort auf die Frage, wie wir im yogischen Sinne aktiv in der Welt handeln können. Karma-Yoga ist heute nach wie vor ein oft missverstandenes Konzept, und es beschreibt ähnlich wie das Wort „Yoga“ einerseits eine Praxis, im weiteren Sinne allerdings einen Seins-Zustand.
In der Gita finden wir Beschreibungen verschiedener Wege, die uns helfen, uns Selbst zu erkennen – und so echtes Glück und Zufriedenheit zu finden. Einer hiervon ist der Yoga der Tat. Man könnte sagen, dass sich die verschiedenen Wege – von denen wir einige im Verlauf dieser Serie kennenlernen werden – jeweils für einen bestimmten Typ Mensch besonders gut eignen, zum Beispiel für Leute, die die Welt eher über den Verstand erschließen oder für Menschen, die besonders mitfühlen und hingebungsvoll sind. Diese Wege ergänzen einander und können für jeden einzelnen Menschen bereichernd sein, unabhängig davon, mit welchen Tendenzen sie auf diese Welt gekommen sind. Aber zurück zum Karma-Yoga …
Das Alltägliche heiligen
Heutzutage assoziieren viele Menschen Yoga mit strenger Askese und einer Abkehr von der „Welt“. Wir stellen uns vielleicht die weisen Rishis vor, die dem Alltag entsagt und sich in Höhlen in den Himalayas zum Meditieren zurückgezogen haben. Okay, ganz ehrlich, manchmal würde ich meinen Problemen und Herausforderungen gerne den Rücken kehren und mich an einen abgelegen Ort ohne E-Mails und Social-Media, Straßenlärm, unhöflichen Nachbarn und fordernden Kollegen verkrümeln, wo das Leben scheinbar viel einfacher ist, und wo ich dann endlich „Yoga machen“ und „in Ruhe“ meditieren kann. Aber das ist weder eine Option, noch würde mich das wahrscheinlich auf lange Sicht gesehen meinem inneren Streben nach spiritueller Entwicklung näher bringen. Und hier kommt für mich Krishnas Unterweisung an Arjuna über Karma-Yoga ins Spiel, denn mit dem Yoga der Tat bringe ich Spiritualität in jeden Aspekt meines Lebens und trage Yoga weit über den Mattenrand hinaus.
Um die Tragweite und Wichtigkeit von Karma-Yoga zu symbolisieren, finden wir in der Gita ein sehr drastisches Beispiel: Der mutige Krieger und Königssohn Arjuna muss auf dem Schlachtfeld entscheiden, ob er gegen seine ehemaligen Freunde, Lehrer und Verwandten in einen tödlichen Kampf um sein rechtmäßiges Königreich zieht; oder ob er resigniert. Kein Wunder, dass ihm angesichts dieser Entscheidung die Knie schlottern.
Hier tritt sein Freund und Wagenlenker Krishna in Erscheinung, der ihn eindringlich an seine Pflichten als Krieger erinnert. Im Dialog enthüllt er Arjuna – und damit auch uns –, wie wir unseren Pflichten in dieser Welt nachkommen und aktiv handeln können, ohne dabei neues Karma aufzuladen, das uns im Kreislauf von Geburt und Tod gebunden hält.
Auch wenn wir nicht wie Arjuna mir Pfeil und Bogen bewaffnet in eine Schlacht ziehen, haben wir doch jeden Tag kleinere uns größere Kämpfe zu meistern. Wir finden uns in Situationen wieder, die uns herausfordern und bei denen wir uns manchmal viel lieber aus der Affäre stehlen würden. Krishnas Botschaft lautet in solchen Fällen: Kämpfe! Stell dich den Krisen und Herausforderungen! Denn pflichtbewusstes Handeln sei besser als Nichthandeln, heißt es. Aber es geht beim Karma-Yoga nicht allein darum, aktiv zu werden. Es geht darum, mit welcher inneren Haltung wir allen Situationen begegnen, die uns das Leben vor die Füße legt, und wie wir auf sie reagieren.
Karma-Yoga als innere Haltung
Jede Handlung erzeugt neues Karma, heißt es in der Yogaphilosophie. Ebenso jedes Wort, das wir sprechen und jeder Gedanke, den wir denken. Doch der Schlüssel dazu, aktiv in der Welt zu agieren und trotzdem kein neues Karma aufzuladen liegt darin, sich von den Früchten der Handlung frei zu machen. Handeln ist also nicht gleich handeln! Entscheidend ist die innere Haltung, mit der wir jede, wirklich jede Handlung ausführen. „Tu deine weltliche Pflicht, aber ohne irgendeine Bindung an sie oder irgendein Begehren nach ihrem Ertrag“, sagt Krishna in Kapitel 3:19.
Oft lesen wir in Bezug auf Karma-Yoga den Ausdruck „selbstloses Handeln“. Noch zutreffender ist meiner Meinung nach der Ausdruck „nicht-zielgerichtetes Handeln“, was bedeutet, nur um der Handlung Willen zu handeln und sich von Vorstellungen oder Wünschen in Bezug auf das Resultat komplett frei zu machen. Tatsächlich ist das eine unglaubliche Herausforderung, denn wir leben heute in einer Zeit, in der sich die meisten Menschen von den Wünschen ihres Egos treiben lassen, ob es ihnen nun bewusst ist oder nicht. Wir streben nach Anerkennung, wir streben nach Macht, nach Erfolg, nach persönlichem Wohlstand und leben dabei abgekapselt und haben die Gemeinschaft verloren, ihren Wert vergessen. Dass wir oftmals die Bedürfnisse unserer Mitmenschen oder der Umwelt außer Acht lassen, wird gerade im 21. Jahrhundert immer deutlicher – und das auf globaler Ebene. Es erfordert heute ein hohes Maß an Achtsamkeit, der Ich-Zuerst-Tendenz entgegenzusteuern.
Aber das Verschenken unserer natürlichen Gaben und unserer Energie liegt eigentlich tief in uns verankert und ist unser natürlichster Zustand. Das beste Beispiel hierfür ist wohl ein Elternteil, der sich ganz SELBST-verständlich mit aller Liebe um sein Neugeborenes kümmert, ohne dabei von seinem Kind irgendetwas im Gegenzug zu erwarten. Aber wie kommen wir zurück zu diesem natürlichen Zustand?
Die engen Grenzen des kleinen Ichs auflösen
Nicht-zielgerichtetes Handeln geschieht, wenn wir ein Bewusstsein dafür entwickelt haben, dass wir nicht getrennt sind von anderen Menschen und der Umwelt, wenn wir verinnerlicht haben, dass wir uns durch Ego-getriebenes Handeln nur selbst betrügen, und wenn wir im Herzen spüren, dass jede Handlung, die wir ausführen, Einfluss auf das Gleichgewicht des gesamten Kosmos nimmt. Dieses Bewusstsein reift durch die spirituelle Praxis – ganz besonders durch die Meditation.
Unsere wahre Natur ist Atman, sagt die Gita, wir sind Teil und nicht getrennt vom großen Ganzen. Unsere Bestimmung ist es, zu dienen – jeder von uns auf seine ganz individuelle Art und Weise. Karma-Yoga wird von vielen Menschen Tag für Tag praktiziert, und das häufig, ohne dass sie diesen Ausdruck überhaupt jemals gehört haben, nämlich indem sie ihr Leben in den Dienst der anderen stellen.
Wenn wir handeln, ohne auf eine persönliche Belohnung jeglicher Art aus zu sein, richten wir unsere Aufmerksamkeit automatisch weg von unserem Ego. Dann verbinden wir uns mit etwas, das weit größer ist als unser kleines Ich, das Bestätigung, Lob und Belohnung braucht – nenn es wahres Selbst, das Göttliche, kosmische Intelligenz oder höheres Bewusstsein. Dann lösen sich die engen Grenzen unseres kleinen Ichs immer weiter auf. Genauso, wie wir auf der Yogamatte durch unsere Praxis Achtsamkeit, Akzeptanz oder auch Hingabe üben, die wir dann später mit über den Mattenrand ins tägliche Leben nehmen, können wir in jeder Situation im Alltag üben, unser Handeln etwas Höherem zugrunde zu legen.
Im Grunde geht es beim Karma-Yoga als Praxis also darum, den Geist durch nicht-zielgerichtetes Handeln so auszurichten, dass wir unsere wahren Natur erkennen – es geht also um nichts weniger, als den Sinn des Lebens zu erkennen. Im Grunde trainieren wir durch Karma-Yoga, uns immer wieder zum Atman hin auszurichten. Aber Vorsicht: Hier können wir schnell in eine Falle laufen, wenn wir ganz gezielt „ziellos handeln“ wollen, um am „spirituellen Bestimmungsort“ zu landen.
Auch wenn die Dinge mal nicht so laufen, wie wir es uns gewünscht haben, oder wenn wir uns in Situationen wiederfinden, die Widerstand in uns erzeugen – wie bei Arjuna auf dem Schlachtfeld – , durch die Praxis von Karma-Yoga entwickeln wir mit der Zeit Gleichmut, der zu tiefer Akzeptanz und zu Vertrauen in das Leben führt. Gleichmütig zu sein – nicht zu verwechseln mit gleichgültig – führt zu echter Freude … und zu Selbsterkenntnis: „Diesen großen Krieg gewinnt man dadurch, dass man Schmerz und Freude, Nutzen und Schaden, Sieg und Niederlage in gleicher Weise annimmt“ (2:38).
Übrigens: Einige Jahre später, in einem anderen Ashram auf der anderen Seite der Welt, war es mein Karma-Yoga-Job, alle Komposttoiletten in der Gemeinschaft zu leeren und zu schrubben. Faszinierend, wie das Universum uns immer wieder herausfordert, Sch…. zu spirituellem Gold zu machen! Ich war selten so zufrieden …
Zum Weiterlesen:
Jack Hawley: Bhagavadgita – Der Gesang Gottes. Eine zeitgemäße Version für westliche Leser, Goldmann Verlag 2002. Ins Deutsche übersetzt von Peter Kobbe