Wie identifiziert bist du mit deiner Biografie? Wie abhängig machst du dein gegenwärtiges Leben von Erfahrungen aus deiner Vergangenheit? Fragen, die wir uns immer wieder stellen sollten.
Von Opferrollen und Vergeben
Vor einigen Wochen begegnete mir eine angehende Therapeutin. Ich nenne sie Johanna. Sie wuchs im Ausland auf, hatte ihren Erzählungen nach einen sehr cholerischen und autoritären Vater. Die Wunden, die er ihrer Seele zugefügt hatte, hatte sie in verschiedenen Therapien versucht zu heilen. Seit einigen Jahren studierte sie nun Verhaltenspsychologie und Psychoanalyse. Sie praktizierte Achtsamkeit und war ihren Worten nach überhaupt sehr offen in ihrem Geist und in ihrem Herzen.
Wir unterhielten uns auch über unsere Liebesbeziehungen. Und auch darüber, wie sehr unsere Eltern unbewusst Einfluss auf unsere Partnerschaften ausübten. In dem Gespräch mit Johanna lenkte ich irgendwann auf Vergebung. Ich sagte ihr: „Ich habe meinen Eltern und all den Menschen, die mir in meiner Kindheit wehgetan haben, vergeben, weil ich erkannt habe, dass sie selbst irgendwann Opfer von Missbrauch, Gewalt oder schwierigen Umständen waren.“ Johanna schaute mich erstaunt an und meinte dann mit einem sehr ernsten Gesichtsausdruck: „Ich werde meinem Vater niemals vollkommen vergeben können. Ein Mensch wie ich, der eine so tiefe Bindungsstörung hat, kann einem Menschen niemals vollkommen vergeben. Das ist einfach so!“
Ich war tief betroffen über ihre Aussage und spürte, dass sie dieses Konzept von Bindungsstörung so tief verinnerlicht hatte. Ich versuchte ihr zu erklären, dass ich, die eine ähnlich schwierige Vater-Erfahrung gemacht hatte, trotzdem in der Lage gewesen sei, ihm zu vergeben. Ich erklärte ihr, dass es dafür für mich gut gewesen war, mich einmal aus meiner Opfer-Identifikation zu lösen und mich mit dem Teil in mir zu verbinden, der frei ist von Anklage und Verurteilung. Johanna allerdings betonte noch einmal: „Nein. Das ist unmöglich, einem Menschen zu vergeben, wenn man eine so tiefe Bindungsstörung hat!“
Johanna und ich diskutierten noch eine Weile über das Thema „Vergebung“ und dann wechselte ich das Thema, weil ich spüren konnte, dass sie auch nicht im Traum bereit sein würde, eine Haltungsänderung vorzunehmen.
Das Herz öffnen
Im Buddhismus sagt man, dass die spirituelle Arbeit damit beginnt, indem man das eigene Herz dafür öffnet, sich selbst und anderen zu vergeben. Und erst dann, wenn man in der Lage ist, die Praxis der Vergebung so anzuwenden, dass sie uns in der Tiefe transformiert, befinden wir uns auf dem Weg des Erwachens.
Diese Aussage hatte ich zum ersten Mal von dem amerikanischen Psychologen und Meditationslehrer Jack Kornfield gehört. Sie hatte mich damals tief berührt, weil sie eine der schwierigsten Tugenden gleich an den Anfang des eigenen spirituellen Entwicklungsweges stellt.
Die Aussage von Kornfield hatte mich aber gleichzeitig auch dahingehend sehr ermutigt, der Praxis des Vergebens einen großen Raum in meiner spirituellen Praxis einzuräumen. Natürlich dürfen Gefühle wie Wut nicht übergangen werden. Aber irgendwann ist der Moment gekommen, an dem wir aufgefordert sind, das Herz zu öffnen und den Blick zu weiten auf etwas, das größer und umfassender als das kleine Ich ist, das sich so gerne als Opfer fühlt.
Wenn wir nicht irgendwann die Geschichte hinter uns lassen, laufen wir Gefahr, dass wir in der Tiefe nicht weiter kommen werden. Denn erst dann, wenn wir unsere biografische Geschichte einmal loslassen, werden wir in Kontakt kommen mit dem Nicht-Ich und der Liebe.
Und dann?! Dann werden wir uns wieder mit unserer Biografie identifizieren oder mit den traumatischen Erinnerungen konfrontiert werden, die im Nervensystem gespeichert sind und liebevoll betrachtet und angenommen werden wollen. Dann wollen der Schmerz, die Trauer und die Enttäuschung gefühlt werden. Mit einem offeneren Herzen und einem weiteren Bewusstsein als davor.
Pendelbewegungen erfahren
Diese Pendelbewegungen machen meiner Ansicht nach unser Leben aus, wenn wir einen spirituellen Weg gehen. Der Wunsch, immer und überall aus dem Nicht-Ich, dem transzendierten Bewusstsein heraus zu leben, ist groß und weit verbreitet. Und es gibt auch Menschen, die behaupten, dass sie erwacht sind und alles Biografische hinter sich gelassen haben und nur noch im Sein ruhen. Ehrlich gesagt glaube ich diesen Menschen nicht. Im Laufe eines Gespräches habe ich bei den meisten wahrgenommen, dass sich ein Ich bemerkbar gemacht hat.
Viel sympathischer hingegen sind mir jene Lehrer, die sagen, dass diese Pendelbewegung nie aufhören wird. Unser Leben schwingt zwischen diesen Polen. Mich persönlich erleichtert diese Haltung. Wenngleich auch dies natürlich ein Konzept und eine Idee ist. Aber sie gefällt mir besser als die Aussage, dass man mit einem Bindungstrauma einem anderen Menschen niemals vergeben kann.
Ich erfahre an mir selbst und anderen, dass die Verletzungen aus frühen Jahren sehr tief und sehr störend sein können und in unser Beziehungsleben hineinwirken. Sind wir uns dessen jedoch bewusst und haben wir die Verletzung im Auge, dann ist es gut, das Herz und den Geist so zu öffnen, als wären wir nie zuvor in unserem Leben verletzt worden.
Das Leben gehört den Mutigen
Wenn wir erkennen, dass wir viel mehr als unsere Verletzungen sind, dann wird es uns gelingen, uns weiterzuentwickeln. Dazu braucht es Mut und die Bereitschaft, sich immer wieder verletzen zu lassen. Das hat nichts mit Masochismus zu tun, sondern mit der Bereitschaft, das Leben zu leben. Mut ist eine der wichtigsten Qualitäten, weil sie davon ausgeht, dass am Ende alles gut wird. Und wenn wir die Bereitschaft mitbringen, uns immer wieder neu einzulassen, um zu lernen, bedeutet es auch nicht, dass wir deswegen immer wieder verletzt werden.
Vergebung ist für mich übrigens auch ein sehr mutiger Akt. Es zeugt von Größe. Es räumt ein, dass wir alle Fehler machen, weil wir Menschen sind. Jemandem zu vergeben zeigt mir auch, dass das Herz größer als der Verstand ist. Es ist für mich ein Hinweis darauf, dass wir wirklich tief praktizieren und in jedem Wesen einen Ausdruck des Göttlichen sehen. Gelingt uns dies, dann erkennen wir auch, dass das Göttliche immer nur unseren Fortschritt im Blick hat. Es möchte, dass wir wachsen. Und manchmal sind es andere Menschen, die das Leben uns schickt, um uns in unserem Wachstum zu unterstützen.
Jetzt ist ein guter Augenblick
Vielleicht gibt es auch in deinem Leben einen Menschen, der dich verletzt hat. Vielleicht magst du den jetzigen Moment nutzen, um ihm zu vergeben. Denn jetzt ist genau der richtige Augenblick. Wenn nicht jetzt, wann dann? Wenn nicht du, wer dann?!
Wenn wir Menschen in unserem eigenen Leben vergeben, sorgen wir nicht nur dafür, dass sich unser eigenes Energiefeld reinigt. Wir tragen auch dazu bei, dass mehr Frieden herrscht auf der Welt. Würde jeder Mensch auf diesem Planeten einem anderen vergeben, dann wäre diese Welt ein anderer Ort. Dann gäbe es nicht so viel Kriege.
Lasst uns deshalb Friedensboten sein und einem Menschen in unserem Leben vergeben. Auch wenn dein Kopf dir sagt, dass dein Bindungstrauma so tief und so alt ist, dass es nicht möglich ist. Wie heißt es so schön: Alle sagten: DAS GEHT NICHT! Und dann kam einer, der wusste das nicht und hat es einfach gemacht. Sei DU dieser eine und zeige der Welt, was möglich ist.