Yoga und Meditation steigern nicht nur das Wohlgefühl, stärken den Körper und beruhigen den Geist. Sie sind vielmehr ein Bezug zur Welt, ein Weg der Erkenntnis und ein Zugang zur Wirklichkeit, der es wert ist, jeden Tag Raum und Zeit in unserem Leben einzunehmen.
„Nimm dir jeden Tag Zeit, still zu sitzen und auf die Dinge zu lauschen. Achte auf die Melodie des Lebens, die in dir schwingt“ Siddharta Gautama
Steine am Wegesrand
Würdest du dich manchmal gern einfach auf einen Stein am Wegesrand setzen und dort warten? So lange, bis du dich selbst wieder eingeholt hast und wieder ganz bei dir angekommen bist? Ich meine nur dich, ohne dein Smartphone und ohne all die anderen Ablenkungen und angeblich unaufschiebbaren Aufgaben.
Fühlst du dich auch oft gefangen in deinen täglichen Routinen, Verantwortlichkeiten und Rollen und sehnst dich danach, einfach mal nur bei dir zu bleiben und das zu berühren, was bleibt, wenn alles andere wegfällt?
Neulich habe ich mir bewusst eine kleine Auszeit genommen, einen Tag ganz für mich allein. Ich habe mich selbst entlassen aus dem Tochter-, Mutter-, Ehefrau- und Hundefrauchen-Dasein, um fernab von allen Rollen und Mustern die Person zu berühren, die ich ohne all diese Verantwortlichkeiten bin. Ich habe mein Smartphone und damit meine Erreichbarkeit in eine Schublade gelegt.
Ein Frühstück in aller Ruhe, ein langer Spaziergang mit mir selbst, eine ausgedehnte Schlenderei über den Wochenmarkt mit einem Kaffee und einem Nusshörnchen. Am Abend eine Yoga-Session und danach einfach in Stille sitzen bleiben und in mein Seelennest eintauchen. Anschließend ein selbstgekochtes Essen zu Hause. Ich endete glücklich und zufrieden mit einem guten Buch und einem Tee gemütlich auf dem Sofa. Ganz in Ruhe, ganz bei mir. Manchmal reicht schon ein Tag, um sich selbst wieder einzuholen und zu erkennen, womit wir uns im Alltag das Leben schwer machen oder uns selbst im Wege stehen. Und manchmal reichen uns schon wenige bewusste Atemzüge oder der Moment, wenn wir uns auf unsere Yogamatte oder auf unser Meditationskissen begeben.
Mehr Steine am Wegesrand
Es ist so wichtig, eingefahrene Rollen immer mal wieder loszulassen, um Abstand zu gewinnen und zu verstehen, wie wir im Alltag immer wieder unseren Automatismen erliegen oder andere als Projektionsfläche nutzen, wenn wir gerade mit uns selbst unzufrieden sind.
Wir brauchen Steine am Wegesrand, die uns die Möglichkeit geben, innezuhalten und zu uns zurückzukommen.
Erlaube dir, jeden Tag etwas Zeit nur für dich zu beanspruchen und abzutauchen in dein Seelennest. Hier darfst du alles andere außen vorlassen und ganz bei dir bleiben.
Seelennest
Dieses wunderbare Wort hat mir meine Freundin Inge geschenkt, sie ist 97 Jahre alt. Früher haben wir viel geredet, sie hat mir vom Krieg, von ihrer Zeit als Tänzerin und ihren Segeltörns um die halbe Welt erzählt und dabei niemals versäumt, auch nach meinem Leben und Befinden zu fragen. Irgendwann wurde sie immer ruhiger und die Gespräche verstummten allmählich. „Es geht mir gut, ich ziehe mich in mein Seelennest zurück“, das waren ihre Worte und ich muss oft über diese wundervolle Umschreibung nachdenken, die intuitiv aus ihrem Inneren kam. Sie hatte wohl meine Gedanken und Sorgen erraten, die ich mir machte, je mehr sie sich zurückzog. Jetzt sitzen wir schweigend beisammen und nur ab und zu ploppt ein Gedanke oder ein Bild aus der Vergangenheit auf. Es ist ein schönes Gefühl, sie in ihrem Seelennest zu wissen. Wenn die Seele in ihrem Nest ruht, ist sie bei sich angekommen, zu Hause, geborgen, im Einklang mit sich selbst und dem großen Ganzen, so stelle ich es mir vor. Kleine Kinder und alte Menschen haben einen besonderen Zugang zu ihrem intuitiven Wissen, dem Wissen, das jenseits von dem, was der Verstand begreifen kann, tief in uns da ist.
Je mehr wir in unsere alltäglichen Aufgaben, Verantwortlichkeiten und Rollen verstrickt sind, umso weniger Zugang haben wir oft zu unserer Innenwelt, wir verlieren den Kontakt zu dem Gefühl, das uns begleitet, wenn wir uns in uns selbst und in der Welt aufgehoben und geborgen fühlen.
Wenn wir uns regelmäßig Zeit nehmen, die Verstrickungen zu entknoten, schützen wir uns davor, uns selbst zu verlieren in Gedankenschleifen oder Verhaltensweisen, die uns nicht guttun, sondern immer nur noch weiter von uns selbst entfernen. Wir können die Knoten nur lösen, wenn wir hin und wieder lockerlassen und innehalten, um bei uns selbst einzukehren und unser Seelennest zu berühren.
Die Essenz unseres Daseins berühren
Schon immer zogen sich die Yogis zum Meditieren an bestimmte Orte zurück. Mit Vorliebe suchten sie Höhlen in den Bergen auf, weitab vom Lärm und Treiben der menschlichen Gesellschaft, oder an Orten in der Natur, die Kraft, Ruhe und Klarheit ausstrahlen: ein ruhiger Fluss, ein stiller, tiefer See oder ein alter, schützender Baum. Ein Meditierender sucht einen Platz, an dem er sicher sein kann, dass er ungestört bleibt und in Verbindung mit sich selbst kommen kann. Auch du darfst dir erlauben, Zeit und Raum nur für dich zu beanspruchen. Such dir einen Ort des Rückzugs und der Stille in deinem Zuhause, den du für dich nutzen und gestalten kannst. Einen Raum, an dem du dir gestattest, jeden Tag ganz zu dir zu kommen und alle anderen Zuständigkeiten für eine bestimmte Zeit loszulassen. Deinen Stein am Wegesrand.
Jeder Mensch muss mit den 24 Stunden auskommen, die der Tag zu bieten hat. Was in dieser Zeit alles Platz findet, ist vor allem eine Frage der Prioritäten und der Organisation. Wenn du dich entschieden hast, dir jeden Tag etwas Zeit für dich zu nehmen, dann setz dieses Tun auf deiner Prioritätenliste ganz weit nach oben. Finde heraus, welcher Zeitraum für dich gut realisierbar ist. 15 bis 20 Minuten lassen sich fast jeden Tag freihalten. Wenn du kein Morgenmuffel bist, ist der Tagesanbruch eine gute Zeit, um dich in dein Seelennest zurückzuziehen. Die Zeit, bevor alle anderen aufstehen, gehört dann nur dir allein. Genieß die Ruhe und den Frieden des Morgens und das befriedigende Gefühl, schon etwas für dich getan zu haben, bevor die Alltagsaktivitäten beginnen. Vielleicht hast du einen sehr herausfordernden Alltag, sodass dir eine regelmäßige kleine Auszeit am Abend guttut und dir hilft, den Tag loszulassen und wieder ganz zu dir zu kommen. Probier es aus und finde heraus, was für dich richtig ist und dir dabei hilft, Ruhe und Entspannung im Alltag zu finden. Wann immer es uns gelingt, in unseren inneren Raum einzutauchen, können wir uns mit unserem Bewusstsein verbinden. Immer dann, wenn die Gedanken uns in Ruhe lassen und wir innere Stille und Frieden finden, fühlen wir uns verbunden, wir haben Vertrauen und empfinden uns als ein Teil vom großen Ganzen. Wir erkennen, dass wir diejenigen sind, die zulassen, dass die Gedanken unseren wahren Kern überdecken.
Der wahre Kern unserer Existenz liegt unter den Gedanken. Die Essenz unseres Daseins ist immer da und immer gleich, reines Bewusstsein. Diese Essenz zu berühren ist das Ziel von Meditation.
Ein Geschenk für dein Leben
Wir können uns auch im Alltag Steine am Wegesrand suchen: den Spaziergang mit dem Hund oder die Tasse Tee, die wir ganz in Ruhe ohne Ablenkung zu uns nehmen. Doch diese Alltagsinseln sind fragil und können leicht gestört werden. Es sind nicht nur unsere Gedanken und Gewohnheiten, unsere Trägheit, Unruhe und die ständige Suche nach Ablenkung, die uns davon abhalten, im Alltag ganz bei uns zu sein. Zusätzlich zu den Störungen, die aus unserem Inneren in den Vordergrund drängen, gibt es zahllose Einflüsse, die von außen auf uns einprasseln und uns immer wieder davon abhalten, innezuhalten und ganz zu uns zu kommen. Deine Yoga-Matte oder dein Meditationskissen können zu deinem persönlichen Stein am Wegrand inmitten eines Alltags werden, der mal mehr und mal weniger turbulent ist. Der Ort, an dem du bei dir einkehren und in deinem Inneren Ruhe, Klarheit und Frieden finden kannst.
In dem Moment, wenn du dich auf deine Yogamatte begibst, darfst du eintauchen in deine innere Welt, zur Ruhe und zu dir kommen. Schon nach kurzer Zeit spürst du, dass die Dinge, die dich belasten, in dem Moment leichter werden, wenn du dich auf deine Matte begibst, weil du weißt, dass dich deine Yogapraxis an den Ort in dir bringt, wo du dich mit deiner inneren Ruhe und Kraft verbinden kannst. Alles, was du dafür brauchst, ist dein Entschluss, es zu tun.
Deine tägliche Yoga- oder Meditationspraxis ist kein Punkt auf deiner To-do-Liste, der abgehakt werden will. Es ist ein Geschenk, das du dir selbst machst. Vielleicht das größte und wichtigste Geschenk deines Lebens. Es bringt dich in Berührung mit der Essenz deines Daseins. Mit deinem intuitiven Wissen, das dich den Sinn deiner Existenz auf einer Ebene begreifen lässt, die die Anspannungen und Widersprüche in dir auf eine leichte, ganz selbstverständliche Art und Weise zum Schmelzen bringt. Antworten auf Fragen, die zuvor unlösbar schienen, sind auf einmal greifbar und die Knoten und Verstrickungen lösen sich scheinbar mühelos. Kann es ein größeres Geschenk geben?
Natürlich lösen sich die Herausforderungen, vor die uns das Leben stellt, nicht automatisch auf, weil wir täglich Yoga praktizieren. Aber wir kommen zurück in unsere innere Ruhe und Kraft und können die Dinge wieder klarer sehen. Wir sind nicht mehr länger die Gefangenen unserer Sorgen und Ängste, sondern sind uns bewusst, dass wir entscheiden können, wie wir agieren und uns zu den gegebenen Umständen einstellen wollen. Wir können auf unser intuitives Wissen zurückgreifen, das uns die Dinge in einem größeren Zusammenhang begreifen und erkennen lässt. Wir fühlen uns nicht länger allein und hilflos ausgeliefert, sondern aufgehoben, getragen und geborgen in etwas Größerem, dessen Kraft auch wir in uns tragen.
Yoga ist ein Geschenk für dein Leben und führt dich auf direktem Weg in deinen inneren Tempel.
Durch deine tägliche Praxis entsteht ein Trampelpfad, der dich in deinen inneren Raum führt. Schritt für Schritt bahnst du dir deinen Weg und findest Zugang zu deinem inneren Tempel, bis du ganz selbstverständlich in ihm ruhst, egal was um dich herum passiert.
Weiterlesen:
Antonia Kemkes. Finde den Tempel in dir. Gräfe & Unzer Verlag. 2022