Alles braucht seine Zeit! Auch bis wir ungesunde Verhaltensmuster erkennen oder uns aus einer toxischen Beziehung befreien können. Wie heißt es so schön: Eine Erkenntnis allein macht noch keinen Meister. Aber wenn du Schritt für Schritt dein Ziel vor Augen hast, wirst du eines Tages frei sein.
Toxische Beziehungen in der spirituellen Szene
Vor einigen Wochen lernte ich Lucia kennen. Sie arbeitete als Yogalehrerin und unterrichtete in einem großen Yoga-Ashram im Ausland. Vor vielen Jahren war sie auf der Suche nach einer für sie passenden Yogalehrerausbildung auf diesen Ashram gestoßen. Anfangs hatte sie das Gefühl, dort ein neues Zuhause gefunden zu haben. Der Leiter des Ashrams Carlos (der Name ist frei erfunden) wurde schnell zu ihrem Guruji, wie Lucia ihn damals liebevoll nannte. Anfangs war er ihr gegenüber sehr zugewandt und aufmerksam. Auch die anderen Yoginis und Yogis in dieser Gemeinschaft waren alle sehr offen und liebevoll ihr gegenüber. Viele von ihnen lernte sie während der dreijährigen Yogalehrerausbildung näher kennen und lieben. Sie hatte in dieser Gruppe jene Familie gefunden, die sie als Kind und Jugendliche so schmerzlich vermisst hatte.
Am Ende der Yogalehrerausbildung hatte Lucia eine große innere Entwicklung hinter sich. Sie hatte im Yogaphilosophie-Teil der Ausbildung viel über sich selbst und ihre eigenen Licht- und Schattenseiten sowie ihre familiären Strukturen gelernt und verstanden. Gleichzeitig spürte sie, dass es aber auch in ihrer Sangha bestimmte hierarchische Strukturen gab, die man einzuhalten hatte: Kritik an Carlos wurde von ihm selbst und einigen seiner nahestehenden Schülerinnen und Schüler nicht geschätzt. Wann immer Lucia etwas gegen den Strich ging oder sie das Gefühl hatte, dass Carlos ihr gegenüber übergriffig oder überkritisch gewesen war, ließ er sie mit dem Satz zurück: „Ich weiß genau, welcher Teil deines Egos jetzt verletzt ist. Es hat aber gar nichts mit mir zu tun. Ich spiegle dir einfach deine Gefühle! Das ist die Funktion eines Meisters.“
Hinterfragen, was ist
Während der ersten Jahre in dieser Sangha wäre Lucia niemals auf die Idee gekommen, die Ansichten und Verhaltensweisen von Carlos anzuzweifeln. Schließlich sprach er so oft darüber, wie spirituell er sei, so dass sie überhaupt nicht auf die Idee gekommen wäre, ihn zu hinterfragen. Aber je mehr sie innerlich zu sich selbst vordrang und Selbstvertrauen in ihre eigene Wahrnehmung und Kompetenz entwickelte, desto mehr traute sie sich, die Verhaltensweise ihres Yogalehrers in Frage zu stellen. Lucia hatte auch eine Therapie angefangen, weil sie einige „Baustellen“ in ihrem Leben erkannt hatte, die sie sich genauer anschauen wollte.
Während dieses ganzen Prozesses hatte sie tiefe innere Erkenntnisse darüber, dass das System ihrer Yoga-Sangha dem ihrer Ursprungsfamilie erschreckend ähnlich war. Und dass, obwohl es auf den ersten Blick ganz anders aussah. Aber hier fand eine Wiederholung dahingehend statt, dass ihre eigenen Bedürfnisse, Wünsche und Gefühle sobald diese von denen der Gruppe abwichen, nicht gesehen oder respektiert wurden.
Je bewusster sie sich darüber war, dass die Yoga-Sangha nur so lange gut funktionierte, wie die Schülerinnen und Schüler Carlos als ihren Meister bewunderten, desto einsamer fühlte sie sich dort.
Lucia erkannte, dass sie einen großen Loyalitätskonflikt in ihrem Herzen hatte. Auf der einen Seite wollte sie die Beziehung zu ihrem Guru und ihrer Sangha aufrechterhalten. Gleichzeitig aber erkannte sie mehr und mehr, dass ihr Guru ihr gegenüber ein schädigendes Verhalten an den Tag legte, welches dazu führte, dass sie sich selbst immer wieder in Frage stellte. Es fiel ihr schwer, ihren langjährigen Yogalehrer, von dem sie so viel gelernt hatte und den sie so viele Jahre bewundert hatte, von seinem Meistersockel zu demontieren und ihn auf Augenhöhe runterzuholen und ihn als einen gleichwertigen Menschen mit Ecken und Kanten zu betrachten. Ja, sogenannter Guruji war einfach nicht der Heilige, zu dem sie und andere Yogis und Yoginis ihn gemacht hatten. Je genauer sie ihn unter die Lupe nahm, desto mehr musste sie erkennen, dass er nur ein Mensch war mit starken Trieben, hohen Ansprüchen an andere und einem fetten narzisstischen Anteil.
Idealisierung schützt vor Schmerz
Mit der Zeit erkannte Lucia unter anderem durch Gespräche mit einigen anderen Yoginis aus ihrer Sangha, dass ihr Guruji auch übergriffig gegenüber Frauen gewesen war. Die Idealisierung, der sie und einige andere Yoginis in der Sangha erlegen waren, hatte sie lange davor geschützt, die Wunde zu spüren, die das missbräuchliche Verhalten des Gurus ausgelöst hatte.
Auch wenn Lucia immer mehr erkannte, was vor sich ging, so war es ihr lange nicht möglich, sich aus der Sangha zu verabschieden. Sie konnte nun ganz genau sehen, wie der Lehrer sich verhielt, aber sie konnte der Wahrheit nur nach und nach ins Gesicht schauen. Denn der Schmerz, der dadurch ausgelöst wurde und ihr bewusst machte, wie sehr sie sich in diesem Mann getäuscht hatte, diesen Schmerz konnte sie nur nach und nach zulassen. Sie hatte so viel Hoffnung in ihre neue, spirituelle Familie gesteckt, dass es ihr fast das Herz brach, sich für die Wahrheit zu öffnen.
Diese Desillusionierung passierte Schritt für Schritt. Immer wieder konnte Lucia sich selbst dabei zusehen, wie sie anderen gegenüber ihren Guru verteidigte und ihn in Schutz nahm. Sie spürte, dass ihre Loyalität ihm gegenüber noch größer war, als es ihr lieb war. Besonders dann, wenn Bekannte oder Familienmitglieder sich ungefragt negativ über ihn äußerten, verteidigte sie ihn. Und dass, obwohl sie selbst wusste, dass die anderen Recht hatten mit ihrer Sicht auf ihren Lehrer. Gleichzeitig ging es Lucia jetzt immer schlechter, wenn sie mit ihren neuen Erkenntnissen über das missbräuchliche Verhalten ihres Lehrers in ihre Sangha zurückkehrte. Ihr altes Leben passte jetzt genauso wenig zu ihr wie ihr vermeintlich neues Leben.
Einseitige Beziehungen
Nachdem Lucia ihren Guru einige Mal in Gesprächen mit ihrer eigenen Meinung konfrontiert hatte und er ihr zu verstehen gab, dass er nicht bereit war, Fehler bei sich selbst zu suchen, musste sie sich eingestehen, dass ihr Meister nicht in der Lage war, sein eigenes Verhalten kritisch selbst zu reflektieren und sich selbst zu ändern. Für Lucia war diese Situation kaum noch auszuhalten, dass er Wasser predigte und sich mit Wein betrank. Es tat darüber hinaus auch sehr weh zu erkennen, dass sie eine einseitige Beziehung zu ihm geführt hatte. Sie kam nicht vor in dieser Beziehung. So wie auch die anderen Yogis und Yoginis nicht wirklich vorkamen. Eine wahre Beziehung, ein Sich-aufeinander-Beziehen hatte es zwischen ihm und ihr nie wirklich gegeben.
Für Lucia war es mit zunehmender Klarheit über die systemische Struktur schlichtweg nicht mehr auszuhalten. Die ganze Situation erinnerte sie schmerzhaft an ihre frühe Kindheit, in der sie allerdings nicht in der Lage gewesen war, dieser Situation zu entkommen. Auch in der Beziehung zu ihrem Vater hatte sie keine Rolle gespielt. Sie hatte immer um seine Aufmerksamkeit gebuhlt, diese aber nie bekommen. Und er hatte sie psychisch missbraucht, indem er immer wieder über ihre Grenzen hinweggegangen war und ihr NEIN! weder gehört noch akzeptiert hatte. Vater und Tochter waren sich nie wirklich auf Augenhöhe begegnet.
Das Überleben sichern
Auch wenn diese Erfahrung mittlerweile 35 Jahre zurücklag, so war ihr autonomes Nervensystem immer noch an einem Punkt, an dem es – wie als kleines Kind – versuchte, in der aktuellen Situation zu überleben, anstatt sich aus dieser Situation zu befreien. Lucia war immer noch nicht in der Lage, einen ihrem Alter entsprechenden, adäquaten Weg aus dieser Dynamik zu erkennen.
Mit Hilfe ihrer Therapeutin erkannte sie, wie tief sich alte ungesunde Dynamiken in ihrem Nervensystem eingebrannt hatten. So tief, dass sie die Lösung alleine nicht erkennen konnte. Sie brauchte Hilfe, um sich aus dieser toxischen Beziehung zu befreien. In diesem Fall war es ihre Therapeutin, die ihr immer wieder sagte: „Du musst diese Situation nicht aushalten! Du darfst gehen! Du bist kein kleines, abhängiges Kind mehr!“.
Mitgefühl und Geduld entwickeln
Für Lucia stellte sich die Frage, wie sie ihre eigenen Ressourcen aktivieren konnte und wie es ihr gelingen würde, genügend Kraft zu entwickeln, um ihre Lebensumstände pragmatisch und für sie heilsam zu verändern. „Mitgefühl x Geduld“ lautete die Zauberformel. Sich selbst einzugestehen, dass sie sich noch in einer Situation befindet, die sie am liebsten schon längst verlassen hätte, brauchte viel Selbstmitgefühl für die eigene Unfähigkeit, die Sangha von heute auf morgen verlassen zu können.
Sich aus solch toxischen Beziehungen zu befreien, dauert häufig länger als es Betroffenen lieb ist. Auch wenn bereits ein Bewusstsein für die ungesunde Beziehungsdynamik vorhanden ist, so sind Trennungsängste, Loyalitätskonflikte und Sehnsüchte nicht zu unterschätzen. Deshalb sind Selbstmitgefühl und Geduld so wichtig.
Das Prinzip zwei Schritte vor und drei Schritte zurück kann uns hier manchmal ein Gefühl von Scheitern vermitteln. Dem ist nicht so. Im Kopf wissen wir schon lange, was zu tun ist, aber im Nervensystem sind häufig Erfahrungen an frühere Erlebnisse gespeichert, die der jetzigen Situation ähneln und in uns ein Gefühl von Ohnmacht auslösen. Ein Bewusstsein dafür zu entwickeln, dass wir heute nicht mehr die abhängigen, kleinen, schutzlosen Wesen sind, die wir früher waren, sondern dass wir handlungsfähige Erwachsene sind, dauert. Genauso wenig geht es von hier auf jetzt, sich aus diesen alten Fesseln zu befreien.
Du bist nicht allein
Dieser Wissenstransfer vom Verstand in den Körper gelingt nicht von heute auf morgen. Je mehr wir benennen und fühlen, was wir wahrnehmen und erfahren, desto mehr verliert das, was wir erleben, seine Macht über uns.
Wenn wir unsere Geschichte teilen, kann es gut passieren, dass uns Menschen mit ähnlichen Geschichten begegnen. Dieses Wissen, dass wir mit dieser Erfahrung nicht allein sind, kann uns darin unterstützen, noch schneller aus der Situation herauszufinden. Dazu müssen wir aber aufpassen, dass wir uns nicht zu sehr mit unserer Geschichte identifizieren und in der Opferrolle hängenbleiben. Viel hilfreicher finde ich es, sich mit der Rolle der Heldin oder des Helden anzufreunden, also jemandem, der sich aus einer solch toxischen Beziehung befreit hat.
Loszulassen ist somit leichter gesagt als getan. Zu akzeptieren, dass Loslassen zwar ein Tu-Wort ist, gleichzeitig aber ein Prozess ist, ist wohl die größte Lektion, die eine solche Erfahrung bereithält.
Diese Situation lässt sich natürlich auch auf jede Eltern-Kind-Beziehung, intime Beziehung oder Arbeitsbeziehung übertragen. |