Der Ayurveda pflegt – wie auch die tantrischen Wege und die weltzugewandten Yogarichtungen – eine positive Einstellung zur Welt der Sinne. Warum Sinneserfahrungen auf dem spirituellen Weg fruchtbar und dienlich sein können.
Schon früh in der indischen Geschichte entfaltet sich der Yoga als ein Weg nach innen. Meditativ soll der Geist erforscht werden. In der klassischen Definition von Patanjali dient der Yoga zur Beruhigung aller psychischen Prozesse, damit wird auch die Sinnesaktivität ausgeschaltet. Die sinnliche Entdeckung der Welt hat dabei wenig Platz. Schließlich soll das fünfte Glied des Ashtanga-Yoga geübt werden: Pratyahara – das Zurückziehen der Sinne.
Das ist im Sinne der Spiritualität und der Selbsterkenntnis alles schlüssig und folgerichtig. Gemeinsam ist allen Yoga-Traditionen (inkl. Hatha-Yoga), dass es letztlich um die Erfahrung des Selbst (Purusha / Atman) geht, die Entdeckung unserer eigenen innersten Natur, die Erkenntnis der uns innewohnenden Göttlichkeit. Das Selbst (Atman) ist ewig und frei. Wer sein Selbst erlebt, gelangt in einen Zustand unendlichen Glücks und vollkommener Freiheit, der mit Worten nicht zu beschreiben ist.
Dieses Streben nach dem Selbst wurde und wird in Indien über einen weltabgewandten, asketischen Yoga oder aber über einen weltzugewandten, integrativen Yoga umgesetzt. Wie können die Sinne im Hinblick auf Letzteren sinnvoll eingesetzt werden?
Schaut man in Yogabücher, die stärker die traditionelle Perspektive vermitteln, wird schnell deutlich, dass die Sinne und die Sinnesaktivitäten nicht gut wegkommen. Es geht oft um Verzicht, um das Aufgeben von Bindungen oder darum, dass die Realität, die über die Sinne vermittelt wird, von täuschender Natur sei.
Ganz anders ist es beim Ayurveda. Dieser nimmt in der indischen Geistesgeschichte einen ganz besonderen Platz ein, weil er sich der Welt im positiven Sinne zuwendet. Wir werden sehen: Sinneserfahrung kann sogar eine heilsame Funktion erfüllen.
Ayurveda und die Kunst der Wahrnehmung
Der Ayurveda kann als eine Kunst der Wahrnehmung bezeichnet werden. Es ist die geschulte, achtsame und bewusste Wahrnehmung, die zu genauen Erkenntnissen führt, auch ohne technische Hilfsmittel wie in der modernen Medizin. Es ist der berühmte klinische Blick, der eine Kombination aus persönlichen Fähigkeiten und langjähriger Erfahrung ist.
Zuerst einmal die Grundlagen: Medizin lebt davon, den Menschen genau zu betrachten und auf dieser Basis zu verstehen, welche Faktoren einen Menschen krank oder gesund machen. Der zentrale Schlüssel zum Verständnis des ayurvedischen Systems ist […]