Über die Dringlichkeit der vegetarischen Ernährung vom Standpunkt einer yogischen Lebenshaltung.
Vor einiger Zeit habe ich eine Gruppe Zweitklässler beobachtet, wie sie ein wenige Tage altes Lämmlein bestaunten. Es war noch etwas unbeholfen auf den Beinen und erforschte die Welt mit seinen neugierig-unschuldigen Augen. Den Kindern wurde es nicht langweilig, einfach nur dazustehen und die unspektakulären Dinge zu bestaunen, die Schafe eben so vollführen. Vor allem aber hatten die Kinder (selbst die lebhaften Jungs) plötzlich eine Zartheit in den Augen, die man sonst nicht bei ihnen sah. Ganz natürlich hatten sie eine Haltung der zärtlichen, behütenden Fürsorge gegenüber der Tierwelt angenommen.
Mir kam unwillkürlich die Frage, wie sehr sich eigentlich diese Kinder bewusst waren, dass sie tagtäglich die gleichen liebenswerten Geschöpfe als Schnitzel, Currywurst oder Salamibrötchen verspeisten? Und wie schockiert und verstört sie wären, wenn sie zusehen müssten, wie dieses süße Lämmlein vor ihren Augen zu Schnitzel, Wurst oder Salami verarbeitet würde?
Es ist eine Tatsache, dass auch die meisten erwachsenen Fleischesser es nicht ertragen können, zuzusehen, wie ein Tier geschlachtet wird. Und das ist eine vollkommen gesunde, natürliche Reaktion, die Kinder praktisch von Natur aus haben. Kinder, die von klein auf vegetarisch aufgewachsen sind, reagieren oft entsetzt, wenn sie erfahren, dass andere Menschen Tiere essen.
Tiere sind nicht dazu da, dem Menschen als Nahrung zu dienen. Sie sind mit seelischen Eigenschaften begabte, zum Teil hoch entwickelte Wesen. Erst nach und nach entdeckt man, welch ein vielschichtiges, fein abgestimmtes und sogar menschenähnliches Sozialverhalten vor allem die höher entwickelten Tiere besitzen. Ebenso wie wir Menschen kennen sie Gefühle der Zuneigung, Trauer, Wut, Hass, Leidenschaft, Angst und Solidarität. Wölfe kümmern sich uneigennützig um ein verletztes Tier im Rudel. Elefanten trauern lange um ein verstorbenes Herdenmitglied. Und die Mütter der meisten Tierarten verteidigen todesmutig ihre Jungen. Unter anderem bei Affen konnten Forscher menschenähnliche Launen, Vorlieben, Freundschaften und Rivalitäten in der Horde fest stellen.
Wenn man bedenkt, dass vor noch nicht allzu langer Zeit von Seiten der “zivilisierten“ Europäer Indianern und Schwarzafrikanern das Menschentum bzw. Innewohnen einer Seele abgesprochen wurde, und man sich vergegenwärtigt, wie grobsinnig und primitiv solch eine Haltung heute dem Großteil der Menschen erscheint, dann kann man vielleicht erahnen, wie sehr wir bei der Entwicklung eines echten Verständnisses vom Wesen der Tiere noch am Anfang stehen. Es hat lange gedauert, bis die Menschheit einen Begriff von der „Würde des Menschen“ entwickelte, und selbst heute wird diese Würde häufig nur mittels strenger Gesetze vor der Gier und Stumpfheit der anderen geschützt. Die Würde des Tieres wahrzunehmen setzt ein echtes Verständnis der Natur des Tieres und des Menschen voraus. Das hieße einfach zu sehen, dass die Bestimmung der Tiere nicht darin liegt, uns Schnitzel, Wurst und Hamburger zu liefern, sondern ihre eigene Erfahrungen für ihre eigene Entwicklung zu machen.
Tiere können dem Menschen so nahe sein, dass sie zum Gefährten werden, der Trost spendet; zum Spielkameraden, mit dem man unbeschwerte Freude teilt; zum Freund, dessen Tod uns tief schmerzt. Jeder Haustierhalter würde sich entsetzen über den Gedanken, sein Tier zu essen. Dass aber das Schwein, Lamm oder die Kuh auf dem Teller ebenso potenzielle Freunde hätten sein können, darauf scheint man nicht zu kommen.
Dass der Mensch Abscheu beim Anblick des Tötens eines Tieres empfindet, könnte man schon an sich als ein eindeutiges Argument dafür werten, dass er nicht für das Fleisch essen geschaffen ist. Ein Raubtier empfindet Lust am Töten. Einen Menschen, der ebenso fühlt, empfindet man zu Recht als grausam oder wenigstens irgendwie abnormal. Natürlich wird sich diese Empfindsamkeit allmählich abstumpfen, aber einem Kind, das zum ersten Mal dem Schlachten eines Tieres zu sieht, steht das Grauen ins Gesicht geschrieben.
Viele, vor allem indische spirituelle Meister, wiesen darauf hin, dass der Mensch mit der Nahrung nicht nur den materiellen Stoff, sondern auch Gedanken und Emotionen aufnimmt. Dabei spielen auch Gedanken und Bewusstseinszustand dessen, der die Nahrung zubereitet, eine Rolle. Eine Nahrung kann nur dann als frei von schädlichen Einflüssen betrachtet werden, wenn sie an sich sattwisch ist, wie z.B. das meiste Obst, Gemüse und Getreide; wenn es von einem Menschen mit reinen Gedanken und Gefühlen zubereitet wurde und wenn es mit lauteren Mitteln erworben wurde. Fleischliche Nahrung wird traditionell als rajasisch bezeichnet, das heißt, sie fördert Unruhe, Angst, Aggression und Triebhaftigkeit. Man geht davon aus, dass der Mensch mit fleischlicher Nahrung auch diese tierischen Qualitäten, vor allem Angst, aufnimmt, denn vor und während der Schlachtung ist das Tier überwältigt von Hilflosigkeit und Todesangst. Das Fleisch, das der Mensch später isst, ist also getränkt mit Angst, was auf einer feineren Ebene Einfluss auf seine Gefühle und Gedanken hat. Der Mensch, der Fleisch isst, isst also Angst, und die wiederum macht ihn aggressiv. Der Mensch ist nur dann wirklich Mensch, wenn er die tierischen Eigenschaften in sich kontrolliert bzw. überwunden hat. Erst wenn der Mensch die menschlichen Werte wie sathya (Wahrhaftigkeit), dharma (Rechthaftigkeit), shanti (friedvoll und friedfertig zu sein), prema (Liebe) und ahimsa (Gewaltlosigkeit) lebt, kann er als Mensch bezeichnet werden und erst dann kann er überhaupt daran denken, auf dem Weg der Gottverwirklichung voran zu kommen. Um Gott zu erreichen, muss der Mensch zunächst wahrhaft Mensch werden, also die tierischen Eigenschaften, die auch er in sich trägt, beherrschen lernen. Im Gegensatz zum Tier besitzt der Mensch die Möglichkeit, die inneren Feinde zu überwinden. Der Mensch kann an sich arbeiten, kann sich verändern. Damit ist er aber auch für seine Taten verantwortlich.
Karmische Gesetze
Das Gesetz des Karma besagt, dass keine unserer Handlungen ohne Folgen für uns bleibt. Jeder Mensch wird unweigerlich den Aufgaben begegnen, die er noch nicht gelernt hat. Man erntet die Früchte, die man durch eigene Handlungen gesät hat. Es ist eine Illusion zu glauben, dass alles Leid, welches der Mensch der Tierwelt antut, für ihn ohne Folgen bliebe.
In der indischen Schrift „Manu-samhita“ wird genau beschrieben, wer sich durch das Töten eines Tieres negatives Karma einhandelt: „Wer die Erlaubnis zum Töten des Tieres gibt, wer es schlachtet, wer dabei assistiert, wer das Fleisch einkauft, wer es zubereitet und wer es isst.“ Dieses Karma wirkt auf vielen Ebenen. Eine davon ist die der menschlichen Beziehungen, da der Mensch durch den Fleischkonsum unmerklich verroht und negative Tendenzen aufnimmt. Er setzt durch das vielfache Töten negative Ursachen, die sich in seinem Leben entsprechend negativ auswirken. Das gilt sowohl in unseren individuellen Beziehungen als auch im Großen, wo die Gewalt gegen Tiere schließlich auch zu Gewalt gegen Menschen, also Verbrechen und Krieg, führen kann.
Wenn man sich bewusst macht, dass auch Tiere nach dem Tod nicht einfach ausgelöscht sind, sondern in irgend einer Form weiter existieren, so mag man erschaudern, wenn man bedenkt, wie viel Verzweiflung, Wut und Hass gegen die Menschen da ins Jenseits mitgenommen wird und die geistige Atmosphäre verdunkelt.
Mit den Augen des Tieres
So stehen wir noch ganz am Anfang einer Entwicklung, in der der Mensch ganz allmählich lernt, die Tierwelt mit Augen des bewundernden Staunens und Verstehens zu betrachten. Die heute noch selbstverständliche Art, die Tierwelt aufs Brutalste zu schänden und zu missbrauchen, muss abgelöst werden durch ein liebevolles Zuwenden und Behüten. In den Augen des Tieres ist der Mensch nämlich ein übermächtiges, unbegreifliches Wesen, ein Gott. Die Aufgabe des Menschen wäre es nun, für die Tierwelt das zu sein, was für den Menschen beispielsweise die Engel sind. Ein Wesen, das man nicht begreift und das einem sogar Furcht erregend erscheinen mag; das man aber gleichzeitig liebt, weil man sich von ihm geschützt, geliebt und geführt fühlt. Momentan muss der Mensch dem Tier als genaues Gegenteil erscheinen: als übermächtiger, teuflischer Dämon, von dem es sich brutal und gefühllos ausgenutzt fühlt.
Der Mensch – ein Pflanzenfresser
Ist fleischliche Nahrung nur aus ethischen bzw. philosophischen Erwägungen abzulehnen, oder gibt es auch biologische Begründungen für den Vorzug vegetarischer Ernährung? Müsste der Mensch in seinen körperlichen Eigenschaften nicht den Raubtieren ähnlich sein, wenn er für eine fleischliche Ernährung gedacht wäre? Die ganz einfache Tatsache, dass der Mensch nicht wie die Raubtiere mit Krallen, großen Reißzähnen oder sonstigen gefährlichen „Werkzeugen“ ausgerüstet ist, könnte schon ein deutlicher Hinweis sein, dass er nicht für das Fleisch essen geschaffen ist. In vielerlei Hinsicht ähnelt die körperliche Konstitution des Menschen viel mehr dem der Pflanzen und Obst fressenden Tiere als den Raubtieren. Im Gegensatz zu den Fleisch fressenden Tieren besitzt er Mahlzähne, aber keine Krallen oder scharfe Reißzähne. Außerdem schwitzt er wie die Pflanzen fressenden Tiere durch Poren in der Haut (die Raubtiere „schwitzen“ über die Zunge: sie hecheln), sein Verdauungstrakt ist im Verhältnis zur Körperlänge viel länger als bei einem Fleischfresser (Fleisch verwest ja bekanntlich schnell und muss daher schnell wieder ausgeschieden werden) und seine Magensäure ist wiederum viel schwächer. In all diesen Punkten ist der Mensch den Pflanzen und Obst fressenden Tieren viel näher als denen, die sich von Fleisch ernähren.
Der Mythos vom gesunden Fleisch
Es ist ein Mythos, der Mensch brauche in irgendeiner Weise Fleisch, um gesund zu sein. Im Gegenteil ist eine vegetarische Ernährung die gesündere. Vielfach entspringt der Wunsch nach Fleisch einfach einer über langen Zeit einseitigen Ernährung. Es stimmt, dass Fleisch sehr nahrhaft ist und Defizite einer ansonsten unausgewogenen Ernährung überdecken kann, aber nicht ohne die angedeuteten negativen Auswirkungen. Rudolf Steiner, der Begründer der Anthroposophie, hat ganz deutlich darauf hingewiesen, dass die vegetarische Ernährung für den heutigen Menschen dem Fleischkonsum vorzuziehen ist und dass sich die Menschheit in Zukunft zur vegetarischen Ernährung hin entwickeln müsse. Unter anderem erwähnte er, dass zum Verdauen der pflanzlichen Nahrung mehr Eigentätigkeit notwendig sei, die den Menschen vitaler mache und sich vor allem positiv auf Denken und Bewusstsein auswirkten. Die immensen Schäden an der Umwelt, für die die „Tierproduktion“ mit ihren perversen Ausmaßen verantwortlich ist, zeigt, dass Fleischessen Gewalt bedeutet und zwangsläufig auch auf anderen Gebieten zerstörerisch wirken muss.
Es bleibt der Trost und die Hoffnung, dass immer mehr Menschen ihr Empfinden gegenüber der Tierwelt verfeinern und jenes innere Gewissen erwacht, das die meisten Menschen angesichts des grausamen Anblicks einer Tierschlachtung verspüren würden, wenn nicht Plastikverpackung und flotte Salamisprüche die wahren Zusammenhänge und Tatsachen vernebelten. Deshalb macht es Mut zu sehen, dass sich gegenwärtig immer mehr Kinder und Jugendliche eigenständig dazu entschließen, kein Fleisch mehr zu essen. Und so wird ein wichtiges Erkennungsmerkmal einer zukünftigen, geistig hoch stehenden, friedvollen Kultur, ihre vegetarische Ernährungsweise sein.