Leben ist Leiden, sprach Buddha und brachte damit zum Ausdruck, dass alles vergänglich ist und wir darunter leiden. Diese Wahrheit ist nichts Neues, aber wenn man selbst betroffen ist, wie durch eine Naturkatastrophe, erfahren wir schmerzlich, was damit gemeint hat.
Es fing alles recht harmlos an. Ich gab Anfang Januar ein Achtsamkeitsseminar im Allgäu und es schneite die ganze Woche. Das ist im Winter ja eigentlich nichts Ungewöhnliches. Allerdings war es in dieser Woche außergewöhnlich, wie viel es schneite. Es fiel sogar so viel Schnee, dass die Zufahrtsstraße von Balderschwang nach Österreich wegen Lawinengefahr gesperrt wurde.
Es war ein eigenartiges Gefühl, den Ort nicht verlassen zu können. Gleichzeitig störte es mich allerdings nicht sonderlich, weil ich mich im Hotel Hubertus, in dem ich das Seminar hielt, sehr sicher und geborgen fühle. Freitagvormittag, am letzten Seminartag, kam die Sonne dann zum ersten Mal wieder raus und ich und die Seminarteilnehmer fuhren sichtlich erleichtert und gut erholt wieder nach Hause.
Am Samstag nahm der Schneefall dann jedoch wieder ein solches Ausmaß an, dass die Hauptstraße ebenfalls wieder gesperrt wurde und am frühen Montagmorgen traf eine große Lawine den Wellnessbereich des Hotels und es musste geschlossen werden.
Die Bilder, die in den kommenden Tagen durch die Presse und das Internet gingen, berührten mich sehr. Seit so vielen Jahren ist das Hubertus eine Art zweite Heimat für mich und ich habe den Ausbau des Hotels gerne mitbegleitet. Betroffen machte mich, dass in nur wenigen Minuten zerstört wurde, woran viele Menschen lange gearbeitet haben und wofür und wovon so viele Menschen gelebt haben.
Jeder Augenblick ist kostbar
Ich selbst war sehr dankbar, dass ich vor dem Lawinenabgang noch aus Balderschwang abgereist war. Hatte ich doch am Donnerstagabend noch in dem Swimmingpool gebadet, der drei Tage später im Schnee versank. Es hätte also auch anders kommen können. So wurde mir wieder einmal schmerzlich bewusst, wie vergänglich alles ist und wie wenig Rücksicht das Leben auf unsere Wünsche und Pläne nimmt.
Alles ist so kostbar und so zerbrechlich. Allen voran das eigene Leben. Buddha bezeichnet das menschliche Leben sogar als das größte Geschenk und erinnerte seine Schüler immer wieder daran, diese Kostbarkeit nicht einfach zu vergeuden. Er verglich das Geschenk als Mensch geboren zu sein damit, dass eine Schildkröte nach einem jahrtausendlangen Schlaf auf dem Meeresgrund aufwacht, an die Wasseroberfläche schwimmt und gerade in dem Moment ein Rettungsring vorbeigeschwommen kommt und die Schildkröte ihren Kopf durch den Ring steckt.
Ein großes Geschenk, als Mensch geboren worden zu sein, ist unser Leben deshalb, weil wir als einziges Wesen in der Lage sind, uns selbst zu reflektieren. Dafür ist zum einen der sogenannte Präfrontalkortex im Gehirn zuständig. Er macht es uns möglich, dass wir unsere eigenen Gedanken, Gefühle und Körperempfindungen bewusst wahrnehmen können. Zum anderen ist da auch der wahre Zeuge, das atmische Wesen, das ewige, absolute und in sich ruhende Sein, das weder geboren wird, noch stirbt – und das von dem ganzen Geschehen unberührt ist.
Leider wird uns die Kostbarkeit des Lebens erst wieder so richtig im Angesicht einer Naturkatastrophe bewusst – oder aber beim Verlust eines geliebten Menschen.
Wie geht es dir? Bist du dir der Kostbarkeit deines Lebens bewusst? Genießt du dein Haus, deine Wohnung, dein Auto, deine Kinder, deine Gesundheit ja alles mit dem Wissen, dass du es im nächsten Moment verlieren könntest?
Halte an dieser Stelle für ein paar Momente inne und mach dir bewusst, was du alles hast. An materiellen Dingen und an Beziehungen. An Gesundheit und an Wohlstand. Bist du dir bewusst, dass es keine Selbstverständlichkeit ist, all das zu haben? Weißt du, dass ein Brand, ein Unwetter dir alles im nächsten Moment nehmen kann? Und: wie gehst du mit den Menschen um, die du liebst? Oder mit dir selbst? Glaubst du, dass dir alle Zeit der Welt zur Verfügung steht?! Oder lebst du jeden Tag so, als wäre er dein letzter?!
Vielleicht denkst du dir jetzt, dass eine solche Lawine ja gar nicht so dramatisch und erwähnenswert ist im Vergleich zu all den Waldbränden oder anderen Katastrophen, die in kurzer Zeit einen ganzen Landstrich verwüsten. Natürlich ist alles relativ. Sind wir persönlich von etwas betroffen, so geht es uns meisten einfach immer näher, als wenn wir von einem Vorfall hören, der in einer Region liegt, zu der wir keinen emotionalen Zugang haben.
Wenn ich zu etwas Bezug habe, macht es mich immer viel mehr betroffen, als Statistiken oder Geschichten aus Regionen, die ich nicht kennen. Das konnte ich selbst vor zwei Jahren überprüfen, als ich von schweren Überschwemmungen in Indien hörte. Natürlich hat es mich sehr betroffen gemacht, wie viele Menschen vom Verlust ihrer Häuser und ihrer Lebensgrundlage betroffen waren. Aber als ich dann hörte, dass auch ein Resort, das ich selbst besucht hatte und in dem ich mir sehr wohl gefühlt hatte, vom Meer zerstört worden war, war meine Betroffenheit noch einmal viel größer.
Was mich aber über die persönlichen Schicksale hinweg betroffen macht ist, dass die Unwetter und Naturkatastrophen in den letzten Jahren immer mehr zunehmen – auch hierzulande. Und auch wenn dies prophezeit wurde, so geht es mir nahe und zeigt mir deutlich, wie wichtig es ist, dass wir wieder im Einklang mit der Natur leben, anstatt gegen sie zu arbeiten. Und hier kann jeder einzelne von uns viel mehr tun, als wir bislang meinen und bereits tun. Treffender formuliert wäre es aber vielleicht sogar, dass jeder von uns viel mehr tun MUSS!
Schieb nichts auf!
Was den Verlust betrifft, so muss es nicht immer eine Lawine sein, die uns die Vergänglichkeit vor Augen führt. In ihrem wirklich wunderschön geschriebenen und sehr lesenswerten Buch „Was man von hier aus sehen kann“ beschreibt die Autorin M. Leky ein Dorf im Westerwald. In diesem Dorf wohnt eine Frau, die ab und zu von einem Okapi träumt. Ein Okapi ist eine Waldgiraffe, die für mich wie ein Wesen aus einem Traum aussieht. So als wären eine Giraffe und ein Esel zusammengesetzt worden. Aber zurück zum Inhalt des Buches: Wann immer diese Frau von dem Okapi träumt, stirbt innerhalb der nächsten 24 Stunden ein Anwohner aus diesem kleinen Ort. Natürlich erfahren alle Bewohner sehr schnell von ihrem Traum und sofort beginnen sie damit, sich mit ihren Feinden zu versöhnen oder Dinge auszusprechen, die sie immer schon aussprechen wollten oder entschuldigen sich für etwas, was sie gesagt oder getan haben, aber es eigentlich nicht wollten. Eine wunderschöne Geschichte!
Wie geht es dir damit? Gibt es etwas, was du einem Menschen immer schon sagen wolltest, dich aber nicht getraut hast? Wie wäre es, wenn dieser Traum auf dein Leben zutreffen würde und du nicht wüsstest, wer in den nächsten Stunden stirbt, es aber gewiss ist, dass jemand stirbt. Hast du noch etwas, was du mit einem Menschen in deinem Umfeld gerne besprechen möchtest? Möchtest du jemanden um Verzeihung bitten?
Mach dir die Kostbarkeit deines Lebens immer wieder bewusst. Vergeude keinen Tag mit Trübsal. Sei nicht nachtragend für etwas was du in drei Wochen nicht mehr erinnerst. Sei dankbar für dein Leben und für all das, was du hast und bist. Und überlege dir, ob es noch irgendetwas gibt, was zwischen dir und einem anderen Menschen steht. Vielleicht ist gerade heute der richtige Moment, um dein Herz zu öffnen und die Beziehung wieder ins Lot zu bringen. Denn vergiss nicht: Alles ist vergänglich, bis auf unseren unvergänglichen Wesenskern. Alles Materielle, das entsteht, vergeht auch wieder: Menschen, Häuser, Tiere. Blumen.
Es wäre doch schade, wenn wir das, was wir heute klären können, erst im nächsten Leben in Ordnung bringen würden. Oder?!