Eva Weinmann ist Psychologin, Yogalehrerin und Therapeutin in Stuttgart. In Stressbewältigungs-Kursen vermittelt sie Achtsamkeitsübungen, Wissen und Strategien für einen ausbalancierten Alltag. Wir haben sie zum Gespräch getroffen und gefragt, ob und wie man dem Stress entkommen kann.
Interview
YOGA AKTUELL: Immer mehr Menschen scheinen unter Dauerstress zu leiden. Und viele werden durch die andauernde Überbelastung in Beruf und Privatleben krank. Was können wir tun, um mit den Anforderungen des Alltags besser umzugehen und ausgeglichener zu werden?
Eva Weinmann: Um mit Stress besser umgehen zu lernen kann es zunächst hilfreich sein, einmal genauer hinzusehen, was einen eigentlich stresst. Dazu kann man z.B. eine Art Detektivrolle einnehmen, um in einem ersten Schritt etwas Distanz zu gewinnen. So steckt man nicht mehr drin im Stress oder ist gestresst – sondern man schlüpft in die Rolle eines Beobachters, der versucht, das Geschehen von außen zu betrachten und zu verstehen. Dabei helfen Fragen wie: Was stresst mich persönlich? In welchen Situationen bin ich am meisten gestresst? Wann am wenigsten?
Zudem macht es Sinn, das eigene Stresserleben für sich selbst zu skalieren, d.h. es einzuordnen zwischen null – gar kein Stress – und zehn – maximaler Stress. Dazu kann man sich auch einen Timer stellen, der fünf bis zehn Mal am Tag zur Erinnerung piept, oder eine Achtsamkeits-App auf dem Smartphone installieren. Dann spürt man kurz hin: Wie ist gerade mein Stresserleben?
So bekommt man schon ein Gefühl dafür, was einen stresst, und man kann erste Schritte ableiten. Wenn ich z.B. gerade auf einer sechs meiner Stress-Skala bin: Was könnte ich tun, um auf eine fünf zu kommen? Gibt es Phasen, in denen ich gar nicht gestresst bin?
Ich habe die Erfahrung gemacht, dass Menschen oft zu recht erstaunlichen Ergebnissen kommen. So berichten mir manche, dass sie völlig falsch eingeschätzt haben, welche Themen sie am meisten stressen. Andere hatten die Vorstellung, dass sie im Dauerstress sind – und haben herausgefunden, dass es durchaus etliche Momente gibt, wo das nicht der Fall ist. Zudem erhöht sich durch diese Übung allgemein die Achtsamkeit: Die Menschen werden sich ihrer Muster bewusst und bekommen eine erste Idee davon, wie sie damit umgehen können.
In dieser Beobachter-Rolle nehme ich vielleicht nicht nur wahr, was mich stresst – sondern auch was mir hilft, zu entspannen, oder?
Richtig. Allerdings ist es häufig so, dass es zunächst zu einer Art „Erstverschlimmerung“ kommt. Also dass man erst auf ganz viele Themen und Momente stößt, die Stress erzeugen. Recht schnell stellt sich dann allerdings ein natürlicher Interesse ein, nicht nur dem Stress auf die Spur kommen wollen, sondern auch der Entspannung.
Häufig fühlen wir uns ja von anderen oder von äußeren Faktoren gestresst: Da ist der cholerische Chef, der uns Druck macht, die Ehefrau, die unzufrieden ist, das Handy, das ständig piept. Wie können wir denn da Stress rausnehmen? Haben wir überhaupt die Macht, das zu tun?
Wenn wir in unserer Rolle als Detektiv erforschen, was uns besonders stresst, dann finden wir eigentlich immer auch Situationen, an denen wir durchaus etwas ändern können. Manchmal reichen schon Kleinigkeiten. So hat mir z.B. jemand berichtet, dass ihm aufgefallen ist, dass ihn der Weg zur Arbeit stresst, weil er dann immer an einer lauten Baustelle vorbei muss. Die Lösung war ganz einfach: Nun geht er einfach drei Parallelstraßen weiter links, wo es ruhiger ist.
Mag sein, dass wir nicht immer das große Ganze verändern können – aber auch im Kleinen lässt sich schon viel erreichen.
Zudem kann es enorm wichtig sein, auch die eigenen inneren Stressoren zu erkennen. Viel Stress machen wir uns nämlich selbst. In der Psychologie gibt es da verschiedene Ansätze, aber die meisten gehen von den folgenden fünf inneren Stressoren aus: „Sei beliebt“, „sei stark“, „sei vorsichtig“, „ich kann nicht“ und „sei perfekt“.
Hier zeigen sich häufig Unterschiede zwischen den Geschlechtern: Frauen haben in ihrer Kindheit häufig vermittelt bekommen, dass es darum geht, beliebt zu sein, nicht anzuecken und sich um andere zu kümmern. Männer glauben dagegen, dass sie immer stark sein müssen. Die Idee, perfekt sein zu müssen, ist auf beiden Seiten recht häufig vertreten.
Wenn man sich also diese inneren Stressverstärker bewusst macht und erkennt, dass man sich z.B. mit der Erwartung, immer alles perfekt zu machen, stark unter Druck setzt, dann kann man sich überlegen, wie man damit umgehen möchte. Vielleicht ist es dann hilfreich, gewisse Begrifflichkeiten in die Meditation oder in eine Achtsamkeitspraxis mitzunehmen, wie z.B.: „Ich erlaube mir Fehler zu machen“ oder „Es ist okay, mir Unterstützung durch andere zu holen.“
Das lässt sich übrigens auch gut in eine Yogapraxis integrieren: Wenn ich merke, dass ich zum Perfektionismus neige, dann kann ich z.B. untersuchen, wie es ist, mal völlig „schepps“ – also ohne perfektes Alignment – in einer Haltung zu stehen. Oder ob ich mir erlauben kann, nicht immer eine Praxis zu üben, die 90 Minuten dauert – sondern auch mal nur 85 oder nur fünf Minuten auf der Matte zu sein.
Ich finde es interessant, dass du dazu einlädst, genauer hinzusehen, was einen ganz persönlich stresst und was man dagegen tun kann. In der Regel denken wir ja: Ich bin gestresst – also ist das, was ich jetzt brauche Entspannung. Das ist zu einer Art Standardlösung für Stress geworden. Aber du verfolgst ja einen viel individuelleren Ansatz…
Wenn wir uns den menschlichen Organismus näher ansehen, dann stellen wir fest, dass er durchaus dafür geschaffen ist, auch Stress auszuhalten und gut damit umzugehen. Deshalb finden wir ja im autonomen Nervensystem beide Aspekte: Einerseits den Sympathikus, der den Körper in die Kraft bringt, mobilisiert, uns Anstrengung bewältigen lässt, und andererseits den Parasympathikus, der uns ermöglicht, runterzufahren und in die Ruhe zu kommen. Das Nervensystem ist dafür geschaffen, die ganze Bandbreite zwischen hoher Anstrengung und tiefer Entspannung zu erleben. Es geht also weniger darum, Stress komplett aus dem eigenen Leben zu entfernen, sondern um einen gesunden Umgang damit.
Ich habe den Eindruck, dass viele die Zielvorstellung haben, irgendwann ganz entspannt durchs Leben zu gehen und eine Art „Nulllinie“ zu erreichen, die nichts mehr aus der Ruhe bringt… Offenbar ist das gar nicht so erstrebenswert?
Das ist zumindest auf der körperlichen Ebene so nicht in uns angelegt. Natürlich ist bei einem Menschen, der sich über lange Zeit auf einem hohen Stresslevel befindet und bei dem der sympathische Aspekt des Nervensystems sehr aktiv ist, kurzfristig das Ziel, den Entspannungsaspekt mehr zu fördern. Aber mittel- und langfristig möchten wir eher ein flexibles Nervensystem fördern, das seinen natürlichen Spielraum auch nutzt.
Also ist Stress vielleicht nicht nur negativ und schädlich?
Hier gibt es neuere Entwicklungen in der Forschung. Zunächst gab es den Begriff Stress ja nur in der Physik und Materialkunde. Gemeint war damit, dass ein Wirkstoff auf einen anderen einwirkt und diesen verformt. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde der Begriff dann auf den Menschen übertragen und man interpretierte Stress als etwas total Negatives. Ziel war es, ihn weitestgehend zu vermeiden.
Doch jetzt gibt es immer mehr Studien, die zeigen, dass vor allem der Glaube daran, dass Stress krank macht, schädlich ist. Wenn wir eine Beanspruchung als „herausfordernd, aber möglich“ einordnen, erleben wir eher positiven Stress, Eustress, oder Flow. Das kann uns dazu motivieren, das eigene Leistungspotenzial voll zu nutzen. Erst wenn wir in ein Gefühl der Überforderung kippen, sprechen wir von Distress – also negativem, krankmachendem Stress.
Wie kann man denn üben, den Spielraum zwischen Anspannung und Entspannung zu nutzen? Kann man sein Nervensystem trainieren?
Wir können auf das autonome Nervensystem über die Atmung Einfluss nehmen. Wir wissen, dass eine Einatmung das Nervensystem eher aktiviert und eine Ausatmung eher einen Entspannungs-Impuls schickt. Im Yoga würde es dann in einem ersten sinnvollen Schritt also darum gehen, die Ausatmung zu verlängern. Wobei man natürlich genau hinsehen sollte, mit welchem Atemrhythmus die Person zu einem kommt und sie da abholen, wo sie gerade ist.
In der Regel atmen Menschen, die sehr gestresst sind, aber generell zu flach. Das heißt mittel- und langfristig geht es dann darum, sowohl die Aus- als auch die Einatmung zu verlängern, so dass man zu gleichmäßigen Impulsen an das Nervensystem kommt.
Ähnliches gilt für die Asanapraxis. Häufig haben Lehrer die Vorstellung, dass sie mit einer sehr gestressten Person vor allem entspannende Haltungen üben sollten. Aber für jemanden, dessen Geist sich gerade wahnsinnig schnell dreht, kann das total überfordernd sein. Möglicherweise ist es dann hilfreicher, mit etwas Aktivierendem zu beginnen und die Person dann nach und nach in die Ruhe zu führen.
Auch hier halte ich es perspektivisch nicht für erstrebenswert, dass ein Mensch nur noch eine Yin-Praxis übt. Günstiger ist eine durchaus fordernde Praxis, in der die Person lernt, dass und wie sie mit Herausforderungen umgehen kann. „Sieh an, ich kann in einer anstrengenden Situation immer noch tief atmen und meinem Nervensystem so melden: Ja, es ist gerade körperlich anstrengend, aber ich bin nicht in Gefahr. Ich kann das bewältigen.“
Gibt es denn bestimmte Asanas, die du empfehlen würdest oder für besonders günstig hältst?
Wenn jemand sehr gestresst in den Unterricht kommt und die Gedanken noch rasen, dann ist es – wie bereits angedeutet – wenig hilfreich, mit einer statischen, regenerativen Praxis zu beginnen. Dann macht es Sinn, der Person einen Fokus, z.B. auf leichte Bewegungen, zu geben. Meist können wir ja die Konzentration am besten halten, wenn eine mittlere Aktivität stattfindet. Wobei ich keine konkreten Asanas empfehlen möchte, weil die Auswahl total davon abhängt, wer da vor einem steht.
Noch wichtiger finde ich aber die innere Haltung, mit der man in die Praxis geht. Die Vorstellung, dass Entspannung das Ziel ist, finde ich dabei nicht immer günstig. Ich persönlich habe die Erfahrung gemacht, dass es mir eher schwer fällt, mich zu entspannen, wenn ich gestresst bin. Was mir dagegen recht leicht möglich ist, meine Aufmerksamkeit auf Genuss zu richten. Ich frage mich dann: Was kann ich jetzt gerade genießen? Fast immer finde ich eine Kleinigkeit – wie z.B. das Gefühl meines weichen Pullis auf der Haut, die angenehme, kraftvolle Länge in meiner Wirbelsäule im Sitzen, die Wärme der Sonne oder der Duft des Kaffees, den ich gerade trinke. Auch auf der Yogamatte kann man in stressigen Zeiten das praktizieren, was einem gerade am meisten Genuss bereitet oder genussvoll in einer Haltung sein.
Sobald ich in diese Haltung des Genusses komme, bin ich wieder mit meinen Sinnen und darüber mit dem Moment verbunden. Denn Stress wird zwar im Moment erlebt, er entsteht aber meistens nicht in der unmittelbaren Gegenwart – sondern bei Gedanken daran, was in der Vergangenheit alles hätte anders laufen sollen und oft bei der Sorge darüber, was in der Zukunft alles passieren könnte.
Vielen Dank für das Interview!
Eva Weinmann ist Dipl. Psychologin, Therapeutin, Yogalehrerin und Autorin. Sie bietet Workshops und Retreats rund um die Schnittstelle zwischen Yoga und Psychologie an und bildet zusammen mit Helga Baumgartner in traumasensiblem Yoga aus. Zudem ist sie in eigener Praxis tätig. Sie lebt im Chiemgau.
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