Der Herzchirurg Reinhard Friedl hat bereits viele Tausende verletzte Herzen in seinen Händen gehalten. Irgendwann erkannte er, dass ein Herz viel mehr ist als der Motor unseres menschlichen Lebens und im Verlauf eines langen Lebens viele Milliarden Male schlägt, damit wir das Leben genießen können. Im Interview verrät er uns, was das Herz ihn gelehrt hat.
Interview
YOGA AKTUELL: Was berührt Sie persönlich am meisten, wenn Sie nach einer Herz-OP in die Augen Ihrer Patienten schauen?
Reinhard Friedl: Wenn ich in diesen Augen wieder Leben und Zuversicht sehe. Eine schwere Herzerkrankung lastet auf unserer Seele, deren Tor zur Welt die Augen sind. Vor einer Operation sehe ich darin oft Angst und die tiefen Spuren eines langen Leidensweges. Wenn ein Patient nach einer Operation wieder besser Luft bekommt und sich mehr belasten kann, kehren auch das Leben und die Zuversicht in die Augen zurück. Es ist aber auch schön, das zu erleben, wenn keine Operation notwendig war.
Das Herz steht auch für Mitgefühl, Liebe, Wille, Weisheit und Stärke. Aber diese Eigenschaften sind direkt am Herzen nicht auffindbar, oder haben Sie dafür Sensoren entdeckt?
Es gibt neue Forschungsergebnisse, die hätte man zu meiner Studienzeit nicht für möglich gehalten. Unsere Herzen fangen in bestimmten Situationen an, im Gleichtakt schlagen. Wissenschaftler sagen dazu, sie synchronisieren sich. Die Herzen von Müttern und Vätern zum Beispiel mit den Herzen ihrer Kinder. Das geht einher mit diesem ganz besonderen Gespür, das Eltern bezüglich des Wohlergehens ihrer Kinder haben. Herzen synchronisieren sich auch, wenn wir mit Freunden mitfühlen oder diese in Gefahr sind, selbst sogar über größere Distanzen wurde das nachgewiesen. Und sogar bei Chirurgen im OP wurde die Phasensynchronisation ihrer Herzen bei ihrem hochsensitiven und gemeinsamen Handeln beobachtet. Die zugrunde liegenden Mechanismen sind bei Weitem noch nicht völlig verstanden. Die Atmung scheint eine Rolle zu spielen. Wissenschaftler gehen ferner davon aus, dass die elektromagnetischen Felder, welche Herzen produzieren, Informationen enthalten, die zum Gleichtakt führen. Auch Mobiltelefone und WLAN-Netze übertragen ihre Nachrichten über elektromagnetische Wellen. Die können wir aber entschlüsseln. Herzen lassen sich nicht abhören. Synchronisation kommt in der Natur häufiger vor, zum Beispiel auch beim Leuchten von Glühwürmchen und Zirpen bestimmter Grillen. Immer geht es dabei um Kommunikation und Austausch. So ist es auch beim Gleichtakt der Herzen: Er ist ein Einschwingen, ein Mitfühlen auf Herzensebene und wird von den untersuchten Personen auch so empfunden.
Haben Sie sich schon einmal gefragt, wieso Ihr Herz überhaupt schlägt und was den allerersten Herzschlag auslöst? Es ist eine zauberhafte Substanz mit dem Namen Liebeshormon, medizinisch als Oxytocin bezeichnet. Es ist nicht nur der Zünder für den ersten Herzschlag, sondern für das Wachstum des Herzens von besonderer Bedeutung. Doch die Pumpe in unserer Mitte hat nicht nur Rezeptoren für das Liebeshormon, sie kann es sogar selbst herstellen. Herzinfarkte fallen kleiner aus, wenn Herzen zuvor experimentell mit Liebeshormon behandelt wurden. Menschen, die in liebenden Beziehungen leben, werden älter. Die aktuell vorherrschende neurowissenschaftliche These, Liebe würde nur im Gehirn entstehen, halte ich für nicht haltbar. Das Herz ist mit der Biochemie der Liebe vom ersten Herzschlag an verbunden und bleibt es ein Leben lang.
Ist ein Muskel, der im Leben 3 Milliarden Mal schlägt stark? Ich würde sagen, „Ja!“ Er ist unfassbar stark. Ihr Herz hat den Willen, Sie bedingungslos zu unterstützen, in allem was sie tun. Ob es sich um die körperliche Liebe handelt, ob Sie Ihrem täglichen Broterwerb nachgehen, oder um Ihr Leben rennen. Selbstloses Handeln, das nicht nur den eigenen Interessen dient, ist ein Merkmal von Weisheit. Und es gibt Studien die gezeigt haben, Menschen sind besser dazu in der Lage, Entscheidungen zu treffen, auf die das Merkmal Weisheit zutrifft, wenn ihr Herz nachweislich entspannt ist.
Die Neuroplastizität geht davon aus, dass wir durch Meditation unser Gehirn durch unseren Geist verändern können – und umgekehrt genauso. Wenn alles miteinander verbunden ist, inwieweit können wir dann auf unser Herz Einfluss nehmen?
Jedes biologische System ist plastisch, das heißt formbar. Das Herz, das Gehirn, unsere Muskeln und auch unsere Gene. Durch Meditation werden bestimmte Gehirnbereiche aktiver, und verändern dann sogar ihre Struktur. Das bezeichnet man als neuroplastisch. Das Gleiche passiert ja auch, wenn wir Sprachen lernen oder ein Instrument. Interessant ist nun, dass eben auch Meditation, sozusagen das Nicht-Denken, die ja bis vor Kurzem in der Ecke der Esoterik verortet wurde, zu amtlich messbaren Veränderungen im Gehirn führt. Und Meditation sowie fast alles, was wir tun und denken, hat wiederum Einfluss auf unsere Gene. Dabei war es bis vor einigen Jahren ein weitverbreitetes Paradigma, Gene würden von Grund auf alles steuern und seien Schicksal bestimmend. Nein! Biologische Systeme sind viele ineinander verschachtelte Kreisläufe, die in beide Richtungen laufen. Wenn wir uns dieses Wissen zunutze machen, kann aus Krankheit auch Gesundheit werden.
Eine ganz westliche Rolle spielt bei der Einflussnahme auf unser Herz die Atmung, die auf lateinisch als Spiritus bezeichnet wird. Spiritualität ist zunächst einmal nichts anderes als die Bezeichnung für etwas, das atmet. Bewusstes Atmen ist immer auch Meditation. Mit jeder Einatmung legen sich die großen Lungen mit ihren prall gefüllten Flügeln um das Herz und drücken es ein bisschen, das Herz wird schneller. Und mit jeder Ausatmung wird das Herz wieder langsamer. Beobachtet man dabei die Herzfrequenzvariabilität so sieht man, aus dem scheinbaren Chaos wird eine schöne, harmonische Sinuskurve. Bei Babys ist das übrigens noch ein normaler Urzustand. Bei meinen eigenen kleinen Kindern hat mich diese Herzatmung, welche sie von wie von selbst, in einen Zustand meditativen Seins führt, immer sehr berührt.
Dem Herzen wird ein eigenes „kleines Gehirn“ mit 40.000 Nervenzellen sowie diversen Rezeptoren, z. B. für Hormone und Neurotransmitter zugesprochen. Welche Aufgabe hat dieses kleine Gehirn?
Unser Herz ist auch eine kleine Maschine mit einer riesengroßen Leistung. Hunderttausend Mal schlägt es alleine an einem Tag. Bei einer solchen Kilometerleistung wäre ein Automobil spätestens nach ein paar Tagen schrottreif. Dieses Wunder an Ökonomie kann das Herz nur erbringen, wenn es ständig nach einem minimalen Energieverbrauch sucht und seine Taktfrequenz und Schlagkraft von Millisekunde zu Millisekunde an die Bedürfnisse des Körpers anpasst. Unsere modernen, energiesparenden Autos gehen an jeder Kreuzung aus. Das wäre im Fall des Herzens keine gute Lösung. Deshalb hat es eine überaus feine Steuerung, die auch als sein Gehirn bezeichnet wird. Damit erreicht es einen Wirkungsgrad, von denen unsere technischen Maschinen Lichtjahre entfernt sind. Das Herzgehirn verfügt sogar über ein Gedächtnis, welches im Bereich von Millisekunden bis Minuten agiert. Mehr braucht es auch nicht, denn es ist das Organ für die Gegenwart, seine Aufgabe ist es, in jeder Sekunde Leben zu erschaffen.
Geht man weiter zurück, braucht es zum Zeugen von Leben idealerweise auch zwei Liebende. Auch hier hat unser Herz seinen eigenen Kopf, der sich durchaus nicht immer nach dem Verstand richtet. Es schlägt nicht nur autonom, es ist verblüffenderweise auch zur Synthese von Schmetterlingshormonen fähig. Und so verschickt und empfängt es Nachrichten von Glück und Erregung in der Form von Dopamin, Noradrenalin oder Adrenalin. Das tun andere Organe auch, aber diese Extraprise, oder sollte ich sagen, die Expertise, die es vielleicht braucht, um der Liebe auf die Sprünge zu helfen, könnte aus dem Herzen kommen. Herzchirurgen kennen diese Substanzen sowieso ganz genau, denn sie werden in isolierter Form auf Intensivstationen verwendet, um schwer kranke Herzen am Leben zu halten. Manchmal muss auch eine in die Jahre gekommene Liebe reanimiert werden. Neue wissenschaftliche Untersuchungen weisen darauf hin, das Herz kann das Liebeshormon Oxytocin sogar stellvertretend für das Gehirn produzieren. Vielleicht gerade dann, wenn der Verstand in einer Beziehungsflaute steckt.
Auf Ihrer Website steht: „Als Herzchirurg und Wissenschaftler habe ich viele Tausend Herzen in meinen Händen gehalten und die Sprache des Herzens begreifen dürfen.“ Was ist Ihrer Erfahrung nach die grundlegende Botschaft des Herzens an einen Menschen? Gibt es so etwas oder hat jedes Herz seine eigene Botschaft?
Erst wenn wir uns wieder mit allen, uns von der Natur zur Verfügung stehenden Sinnesqualitäten verbunden haben, sind wir ein ganzer Mensch. Der Homo sapiens, der wissende Mensch, weiß, dass er ein fühlendes Herz hat, und ist kein intellektueller Kastrat. Ich halte die Vision vom Homo Deus, dem Menschen, der aufgrund seiner intellektuellen Fähigkeiten und Technologie, ein Gott ist, für ein bisschen vermessen. Wenn ich mir unsere Welt so anschaue, sehe ich ohnehin eher das Gegenteil. Wir können uns aber vom „High Performer“ zum „Heart Performer“ weiterentwickeln, indem wir wieder anfangen, mit dem Herzen zu fühlen und diese Qualitäten in unser Bewusstsein zu integrieren. Seien wir nicht dumm und hören auf die Stimme unserer Herzen. Wenn unser Gehirn sie so ernst nimmt, sollten wir es auch tun.
Herzlichen Dank für das Interview!
Zum Weiterlesen:
Reinhard Friedl: Der Takt des Lebens. Warum das Herz unser wichtigstes Sinnesorgan ist. Goldmann Verlag 2019
Weitere Informationen unter: www.herzzeit.de