Im Alter von 14 Jahren wurde Annette Kaiser durch den Gesang von Novizinnen so tief berührt, dass sie von diesem Moment an intensiv nach einem Weg suchte, der ihr erlaubte, mitten im Leben stehend konsequent einen spirituellen Weg zu gehen. So kam sie über den Katholizismus, den tibetischen Buddhismus zum Sufismus, der für sie keine Religion sondern eine Lebensweise ist. Eine Lebensweise, die sie in Kontakt mit ihrer Essenz gebracht hat, dem So-Sein, dass jeder Mensch in sich trägt und jeden Moment erfahren werden kann. Hier und Jetzt
YOGA AKTUELL: Du bist im letzten Jahr durch dein Buch „Der Weg hat keinen Namen. Leben und Vision einer Sufi-Lehrerin“, das du zusammen mit Anna Platsch geschrieben hast, sehr bekannt geworden. Das Buch beschreibt deinen spirituellen Weg. Er hat dich über verschiedene Traditionen zum Sufismus gebracht. Was genau versteht man unter Sufismus?
Annette Kaiser: Zum Sufismus selbst möchte ich zunächst noch ein paar Worte sagen, denn hier kommt es immer wieder zu großen Missverständnissen. Das liegt daran, dass Sufismus im Duden als die esoterische Richtung des Islams definiert wird. Dies sieht die Tradition, aus der ich stamme, aber nicht so. Meine Lehrerin war die englisch-russische Sufi-Lehrerin Irina Tweedie aus der Naqshbandiyya-Mujaddidiyya-Sufi-Linie aus Indien. Ihr Lehrer war Bhai Sahib, ein Inder. Es ist also ein indischer Sufizweig. Frau Tweedie hat gesagt, dass die Sufitradition so alt ist, wie die Menschheit selbst. Es ist eine Art Weisheitslehre, die früher auch unter anderen Namen existiert hat. Ein Name war Kamal Posh, ein anderer Safa. Frühere Namen sind nicht mehr bekannt, aber es ist eine überlieferte alte Tradition, die so alt ist wie die Menschheit selbst. In unserem Verständnis ist Sufismus eine Lebensweise, ein innerer Weg. Es ist keine Religion und auch keine Philosophie. Und genau das war es auch, was mich angezogen hat. Es geht hier weder um abstraktes Wissen noch um ekstatische Zustände, sondern darum, wie wir leben. Das Wort SUF bedeutet Wolle. Ein Sufi ist ein Mensch, der ein Herz hat, das so weich und so warm ist, wie Wolle. Eine andere Definition lautet, dass ein Sufi Niemand ist. Ein Mensch, der über die Persona in das transpersonale, in das universale Bewusstsein aufgeht.
Was genau war für dich das Anziehende am […]