Dr. Georg Feuerstein war Gründer und Leiter des Yoga-Research and Education Centers in Kalifornien. Er verfasste bisher über 30 Bücher, einschließlich einiger sehr bedeutenden Werke über Yoga. Sein letztes großes Werk, ein 720 Seiten starkes Kompendium, erschien unter dem Titel: “Die Yoga Tradition” – das zur Zeit umfassendste Werk über Yoga-Geschichte, -Literatur, -Philosophie und Praxis. Das Erscheinen dieses Buches hatte Richard Miller zum Anlaß genommen, einen der wenigen großen Bewahrer und Kenner yogischer Urquellen aufzusuchen und ihm gerade im Hinblick auf die allenorts stattfindende Verwässerung authentischer Lehren, einige interessante Fragen zu stellen.
YOGA AKTUELL: Sie bezeichnen Ihr Buch „The Yoga Tradition“ als eine Zusammenfassung Ihrer über dreißigjährigen Yogaforschung. Es scheint, dass Sie damit nahezu jeden Aspekt des Yoga, welcher sich in den letzten 5000 Jahren herausgebildet hat, abdecken wollen. Was hat Sie überhaupt dazu bewogen, zum jetzigen Zeitpunkt Ihres Lebens, ein derartig ungewöhnliches Projekt anzugehen?
Georg Feuerstein: Mit Büchern verhält es sich bei mir so, dassdiese die Gewohnheit haben, sich fast wie zufällig aus mir zu ergeben. Wie ich schon im Vorwort zu „The Yoga Tradition“ erkläre, arbeite ich an diesem speziellen Werk im Prinzip seit ich im Alter von neunzehn Jahren mein erstes Buch auf deutsch schrieb. Ich habe eigentlich eine sehr systematische Art und Weise zu denken und muß zunächst immer erst das Gesamtbild von etwas sehen, bevor ich dann in die Details gehen kann. Aus diesem Grund schuf ich von Zeit zu Zeit diese systematischen Überblicke, zu meinem eigenen Nutzen und natürlich auch für den meiner Studenten. „The Yoga Tradition“ ist eigentlich nichts anderes als die aktuellste und umfassendste Inkarnation dieser Art von Bemühungen. Vielleicht fühle ich mich schon in zehn oder fünfzehn Jahren dazu veranlasst, das Buch weiter zu entwickeln, indem dann neueste Forschungserkenntnisse und neues Denken mit einfließen. Oder einer meiner Studenten wird es tun, natürlich vorausgesetzt, dass mein Verleger uns weiterhin gewähren lässt. Wie Sie sich unschwer vorstellen können, erfordert die Produktion eines solch umfangreichen Bandes eine große finanzielle Investition. Und es ist sicherlich kein Werk, welches die Massen anzieht.
Ich glaube dennoch, dass Ihr Buch auf der ganzen Welt viele dankbare Leser finden wird. Ein vergleichbares Werk existiert bis heute noch nicht. Sie liefern nicht nur klare Informationen über die vielen Zweige und Schulen des Yoga und ihre Beziehungen zueinander, sondern auch eine Menge sehr nützlichen Hintergrundmaterials.
GF: Ja, die Quellentexte bilden einen wichtigen Aspekt des Buches. Ich habe sie mit einbezogen, weil ich denke, dass man Yoga am besten auf der Basis seiner eigenen Literatur erlernt. Die vielen Quellentexte, welche Übersetzungen der archaischen Rig- und Atharva-Veda bis hin zu neueren Yoga-schriften abdecken, helfen dem Yoga-Praktizierenden auf den „Geschmack“ des traditionellen Yoga zu kommen.
Ist es für westliche Yoga Praktizierende wichtig, diese Schriften zu studieren?
GF: Absolut. Und ich sage auch warum. Die meisten westlichen Yoga Ausübenden gelangen über Hatha -Yoga zur Praxis des Yoga. Dieses Hatha-Yoga wird oftmals von einem Lehrer weitergegeben, der oder die selbst nicht auf traditionelle Art und Weise unterrichtet wurde. Man darf nicht vergessen, dass sich die westliche Yogabewegung bereits in der vierten oder gar fünften Generation befindet. Im Grunde begann alles mit Swami Vivekanandas Erscheinen beim Parlament der Weltreligionen im Jahre 1889 in Chicago. Es gab zwar einige andere indischen Gurus, die noch vor ihm den Westen besuchten, jedoch war er der Einflussreichste unter diesen ersten Hindu-Missionaren gewesen. In einer gewissen Weise bereiteten diese anderen den Boden für Vivekanandas großen Erfolg. Dann, in der Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts, wurde Hatha-Yoga eingeführt und erfreute sich wegen seines Fokus auf den physischen Körper rasch einer großen Beliebtheit. Als Resultat erfuhr Hatha-Yoga eine weitflächige Verbreitung und musste viele seiner traditionellen Verankerungen einbüßen. Ich weiß, dass einige westliche Lehrer denken, dass dies durchaus gesund sei, jedoch blicken viele indische Lehrer misstrauisch auf das, was in der westlichen Welt aus Yoga gemacht wurde, insbesondere aus Hatha-Yoga. Nur allzu oft wird Hatha-Yoga als eine Art Gymnastik präsentiert.
Was ist Ihrer Ansicht nach die traditionelle Form von Hatha-Yoga?
GF: Wie alle Yogaschulen war Hatha-Yoga ursprünglich eine Befreiungslehre gewesen, oder moksha-shastra. In anderen Worten, es diente in erster Linie einem spirituellen Zweck – dem der Selbst-Verwirklichung. Selbst-Verwirklichung oder Erleuchtung ist das Ziel aller traditionellen Zweige und Formen des Yoga. Es besteht daraus, sich der einen wesentlichen Identität bewusst zu werden, die das ewige, allgegenwärtige Selbst (atman) ist. Als ein Zweig des Tantra, trachtet man im Hatha-Yoga danach, die kundalini – die Schlangenkraft – zu erwecken, die als psychospirituelle Energie in unserem feinstofflichen Körper schlummert. Aller Hatha-Yoga ist Kundalini-Yoga. Wieviele westliche Lehrer sind sich des tantrischen Charakters von Hatha-Yoga überhaupt bewusst?
Welche Rolle spielt Kundalini-Yoga bezogen auf Selbst-Verwirklichung?
GF: Gemäß den Lehren des Tantra ist die Selbst-Verwirklichung allumfassender, da die erwachte kundalini den physischen Körper in einen „göttlichen Körper“ (divya-deha) transformiert, in dem jede einzelne Zelle bewusst wird. Dadurch führt im Tantra die Erleuchtung eines Meisters nicht bloß zu einer Transformation seines Wahrnehmungsvermögens von der Welt, sondern sie sickert bis hinunter in seinen physischen Körper und produziert etwas, was man als eine „Erleuchtung der Zellen“ bezeichnen könnte.
Wenn Sie den Begriff „Tantra“ gebrauchen, meinen Sie offenbar nicht die Art des sexuellen Tantra, so wie er von einigen westlichen Lehrern befürwortet wird.
GF: In keinster Weise. Tantra ist eine erstaunlich umfassende und erleuchtende Tradition, die sich um 500 A.D. herauskristallisierte und etwa 500 Jahre später zur Entstehung des Hatha-Yoga führte. Von Anfang an verstand sich Tantra als eine „New Age“ Lehre, d.h., eine Lehre, die im besonderen für das Kali Yuga bestimmt ist. Das Kali Yuga ist das dunkle Zeitalter, das durch moralischen und spirituellen Niedergang gekennzeichnet ist. Die tantras – die Schriftquelle der tantrischen Tradition – beinhalten alle notwendigen Lehren für spirituelles Wachstum und Befreiung im dunklen Zeitalter, welches sich noch immer in vollem Gang befindet.
Welche Verbindungen existieren zwischen tantra und der kundalini?
GF: Nun, die kundalini oder kundalini-shakti („Spiralkraft“) ist eigentlich ein Gedanke des Shaktismus – einer Lehre, die besagt, dass dem Universum eine große spirituelle Kraft zugrunde liegt. Diese Idee wurzelte ebenfalls im Tantra. Dieser Lehre entsprechend ist die im Körper schlummernde psycho-spirituelle Energie im Zentrum an der Basis der Wirbelsäule eingeschlossen. Durch verschiedene Übungen, insbesondere Atemkontrolle und Visualisierungen, versucht der tantrika (oder Tantra-Eingeweihte) diese Energie zum Erwachen zu bringen und führt sie in Stufen bis ins Zentrum der Krone des Kopfes. Dort verschmilzt die individuelle Kundalini-Kraft mit der allgegenwärtigen göttlichen Kraft. Man kann sich das als Vereinigung von Gott (d.h. höchstes Bewusstsein) und Göttin (d.h. die Schlangenkraft, welche eine Manifestation der höchsten Energie ist) vorstellen.
Das Ergebnis dieser Vereinigung ist im ersten Schritt Ekstase oder samadhi. Und auf lange Zeit betrachtet führt es zu Befreiung und Selbst-Verwirklichung. Natürlich ist die Theorie und Praxis hinter diesem Vorgang wesentlich komplexer, als dass es hier mit ein paar Worten vollständig zum Ausdruck gebracht werden könnte. Ich habe in meinem Buch „Tantra: The path of Ecstasy“ ausführlich darüber geschrieben.
In Ihrem Buch „Die Yoga Tradition“, erwähnen Sie, dass Sie schon als Teenager von einem indischen Guru Hatha-Yoga gelernt haben. Können Sie ein bisschen darüber erzählen.
GF: Oh, das ist lange her. Lassen Sie mich nur soviel sagen, dass ich das Praktizieren von Hatha-Yoga Mitte Zwanzig aufgab und vor etwa zwei Jahren wieder damit anfing. Das Aufgeben von Hatha-Yoga für mehr Meditation und mehr Zeit im Alltag war einer meiner bedauernswertesten Fehler. Durch eine Erkrankung entdeckte ich das Hatha Yoga wieder und weiß es seither sehr zu schätzen. Schließlich sind wir verkörperte Wesen und sollten daher mit unserem physischen Gefährt sehr sorgsam umgehen. Es ist das einzige, was wir im Augenblick besitzen. Traditionell wurde Hatha Yoga als ein Weg eingeführt, der zur Aufgabe hatte, den Körper zu wappnen und ihn auf den heftigen Ansturm eines vollständigen spirituellen Erwachens vorzubereiten. Ein gänzliches Erwachen der Schlangenkraft kann in einem unvorbereiteten Körper große Verwüstung anrichten. Aus diesem Grund entwickelten die Hatha-Yoga Meister eine ganze Reihe von Reinigungsübungen, welche nicht nur den physischen Körper reinigen – vorwiegend das Verdauungsystem – sondern auch den feinstofflichen Körper.
Der Hatha-Yoga Eingeweihte spricht von subtilen Elementen (tattva genannt), feinstofflichen Kanälen (nadi) und psychoenergetischen Zentren (chakra). Alles muß auf den Besuch der Königin kundalini, der göttlichen Kraft, vorbereitet sein. Andernfalls wird sie ärgerlich und ruiniert das Nervensystem und sogar selbst Organe wie das Herz. All dies ist in den Traditionen des Yoga wohlbekannt, jedoch sind sich viele westliche Praktizierende der Gefahren des Kundalini-Yoga nicht bewusst genug und gehen sehr dilettantisch damit um.
Warum haben Sie Hatha-Yoga damals aufgegeben?
GF: Ehrlich gesagt, ich dachte ich brauche es nicht. Ich fühlte mich gesund und Meditation hielt ich für wesentlich interessanter. Ich nehme an, mir fehlte es damals einfach an Voraussicht. Wenn man jung ist, schenkt man dem Alterungsprozess keine sonderliche Aufmerksamkeit. Und so forderten ein zuviel an Arbeit und ein zu wenig an Schlaf, an einem gewissen Punkt in meinem Leben, ihren Tribut von mir. Plötzlich litten sogar selbst meine Meditationen unter dem Ungleichgewicht der feinstofflichen Energien. Alles eine wunderbare Lektion, wirklich! Deshalb praktiziere ich heute Asana-Haltungen und Atemkontrolle (pranayama) wenigstens einmal, oft sogar zweimal am Tag. Ich genieße diese Zeiten, in denen ich mittels Hatha-Yoga meine Körperpotentiale erforschen kann. Zudem dient es auch wunderbar der Ausübung meiner anderen yogischen Praktiken. Spirituelles Leben ist letztlich eben eine Spirale.
Was praktizieren Sie noch?
GF: Seit den vergangenen letzten sieben Jahren praktiziere ich die Heil-Buddha sadhana, die aus der tibetanisch buddhistischen Tradition stammt, in welche ich eingeweiht wurde.
Ist es nicht ein wenig seltsam, dass Sie dem buddhistischen Pfad folgen, wo Sie sich doch so viele Jahre leidenschaftlich dem Hindu Yoga widmeten?
GF: Nur von außen betrachtet. Mir selber erscheint es vollkommen normal. Im Grund genommen ist es egal, welche Form des Yoga oder spirituellen Disziplin man praktiziert, solange man überhaupt etwas praktiziert. Ich hatte das Glück, eine Einweihung in die Heil-Buddha sadhana zu empfangen und habe es von Anfang an sehr genossen. Deswegen betreibe ich es auch sehr fleißig. Jedoch lassen Sie mich noch sagen, daß, obwohl ich täglich das buddhistische Zufluchtsgebet wiederhole, ich mich auf einer tieferen Ebene nicht als Buddhist betrachte. Jedenfalls nicht im herkömmlichen Sinne. Ich habe mich auch nie als Hindu gesehen. Ich betrachte mich vielmehr als einen Menschen, der sich einfach nur auf dem yogischen Pfad befindet. Und zur Zeit erfährt meine Praxis eben eine starke buddhistische Orientierung. Ich habe jedoch eine tiefe Achtung und Liebe gegenüber allen großen Meistern, gleichgültig welcher Tradition sie angehören.
Ob es Buddha oder Patanjali ist, oder welcher Meister es auch immer sein mag, schlußendlich verneige ich mich im Geiste vor allen von ihnen und empfange mit großer Dankbarkeit ihren Segen. Allerdings glaube ich nicht daran, unterschiedliche Praktiken zu sehr zu vermischen. Ein Buffet mag für ein Abendessen ganz dienlich sein, jedoch für die spirituelle Praxis eines Menschen ist es ungeeignet. Es sei denn, man ist ein spirituelles Genie wie Ramakrishna, der mühelos zwischen verschiedenen spirituellen Richtungen wechseln konnte, da er in allen Meisterschaft erlangt hatte.
Aber Sie verbinden Ihre buddhistische Praxis mit Hatha Yoga…
GF: Ja, aber ich gebrauche Hatha-Yoga in erster Linie als Vorbereitung, die körperliche Gesundheit zu erhalten und meinen Körper mit Energie aufzuladen. Traditionsgemäß ist Hatha Yoga ein in sich geschlossener Pfad, obwohl die Hatha-Yoga-Pradipika bei Hatha Yoga von einer Leiter zum Raja Yoga spricht. Mit Raja Yoga meint Svatmarama Yogendra, der Autor dieses mittelalterlichen Textes, wahrscheinlich die Praxis von Meditation und Ekstase. Nun, und ich gebrauche Hatha Yoga als eine Leiter zum Vajrayana Buddhismus. Nebenbei bemerkt, in der tatsächlichen spirituellen Ausübung gibt es eigentlich keine sehr große Unterscheidung zwischen Vajrayana oder tantrischem Buddhismus und Hindu Tantra. Es gibt sogar einige große Meister, die gemeinsam von ihnen verehrt werden, wie zum Beispiel Matsyendra…und…
…denken Sie es ist wichtig einen Meister oder Guru zu haben?
GF: Yoga ist immer von Lehrer an Jünger weitergegeben worden. Nur im Westen hat man diese yogische Einweihungsstruktur ignoriert und sie in Frage gestellt. Hier im Westen haben manche sehr schlechte Erfahrungen mit Lehrern gemacht, die entweder einen Mangel an moralischen Grundsätzen hatten oder sich schwer taten, die psychische Zusammensetzung ihrer westlichen Jünger zu verstehen, oder sogar beides. Aber es wäre töricht, das Kind mit dem Badewasser auszuschütten. Sie brauchen keinen Guru, um Hatha Yoga zu erlernen, lediglich einen guten Lehrer. Aber wenn Sie nach mehr als nur körperlicher Fitness streben und darauf hoffen, Erleuchtung zu erlangen, dann denke ich ist ein Guru heute genauso notwendig wie er oder sie es vor 5000 Jahren war. Es sind nur wenige Menschen mit der spirituellen Reife geboren, den höheren spirituellen Prozess selbständig auszulösen. Eine Einweihung scheint essentiell zu sein, genauso wie eine richtige Führung durch die höheren Stadien der Verwirklichung notwendig ist, wenn Sie die üblichen unumgänglichen Irrtümer vermeiden wollen.
Wo findet man qualifizierte Gurus, die uns einweihen und führen können?
GF: Das ist eine gute Frage, die man oft an mich stellt. Es gibt sie, aber sie neigen nicht dazu, sich zu sehr zu zeigen. In der Tat denke ich manchmal, daß die populärsten Gurus nicht unbedingt die qualifiziertesten für diese Arbeit sind. Ich persönlich glaube an die Richtigkeit des traditionellen Grundsatzes, daß der Guru dann kommt, wenn der Jünger entsprechend bereit ist. Was mich anbelangt, so habe ich immer dann Hilfe bekommen, wenn ich sie brauchte, und war auch bereit sie zu empfangen. Bis der Guru kommt, kann man immer eine Menge innere Arbeit tun. Tatsache ist, daß er oder sie nicht kommen wird, ehe man nicht ausreichend darauf vorbereitet ist.
In Ihrem Buch erwähnen Sie, daß es verschiedene Typen von Gurus gibt. Einer, der einen zum Erwachen bringt, einer, der einen lehrt und führt usw.
GF: Richtig. Und manchmal werden diese verschiedenen Funktionen durch ein und dieselbe Person verrichtet. Es ist wirklich nicht so wichtig, wie der spirituelle Prozess in einem ausgelöst oder gefördert wird. Das wichtige ist, daß wir unseren Teil dazu beitragen. Es bringt nichts nur passiv zu sein, und darauf zu warten, bis unser Guru erscheint. Wir können daran arbeiten, indem wir eine solide Grundlage für diese Eventualität schaffen.
Es gibt noch eine andere traditionelle Auffassung, nämlich die, daß der Guru in uns selbst ist. Wie kann das mit dem übereinstimmen, was Sie eben gesagt haben?
GF: Oh, es stimmt perfekt überein. Der höchste Guru ist unsere eigene wahre Natur, soviel ist sicher. Das Problem ist nur, daß wir unseren eigenen inneren Lehrer nicht gut genug hören können, oder daß das, was wir glauben gehört zu haben, Stimmen aus unserem Unterbewußtsein sind. Aus diesem Grund benötigen die meisten von uns einen äußeren Guru, bis wir unsere wahre innere Führung gefunden haben. Und dann – welch eine Überraschung – entdecken wir plötzlich, daß die Stimme des äußeren Gurus und die des inneren Gurus vollkommen identisch sind.
Aber dies setzt doch voraus, daß unser äußerer Guru wirklich vollständig erleuchtet ist und sich somit in der Lage befindet, uns die ganze Wahrheit zu reflektieren.
GF: Selbstverständlich. Deshalb sollten wir auch nicht blindlings in die nächstbeste Anhängerschaft rennen. Es gibt Gurus und es gibt Lehrer, die aus Gewohnheit Gurus genannt werden. Gute Lehrer können uns über eine lange Wegstrecke begleiten, jedoch nur die sad-gurus – also diejenigen, die uns von der Wirklichkeit (sat) durch ihre erleuchtende Gegenwart erzählen – können uns dabei helfen, Erleuchtung zu erlangen.
Woran kann man einen erleuchteten Meister von einem unterscheiden, der es nicht ist?
GF: Da gibt es kein verläßliches Kriterium, und das ist auch der Grund, warum es notwendig ist, die Traditionen des Yoga zu studieren und sowohl einen gesunden Menschenverstand als auch ein höheres Unterscheidungsvermögen (viveka) zu entwickeln. Grundsätzlich können Sie immer folgende Daumenregel anwenden, welche uns vom Gründermeister der christlichen Tradition geschenkt wurde: „An ihren Früchten werdet ihr sie erkennen.“ Gleichzeitig dürfen wir jedoch nicht unseren Idealisierungen von dem, was ein Guru unseren Vorstellungen nach sein sollte, erliegen. Da es die Aufgabe eines Gurus ist, unsere grundlegende spirituelle Unwissenheit (avidya) zu verbannen, könnte es sein, daß wir seine oder ihre Handlungen nicht immer gleich nachzuvollziehen in der Lage sind. Doch sollten sie unbedingt zu spirituellem Wachstum und größerer innerer Freiheit führen.
Und innere Freiheit ist genau das, worum es beim Yoga geht?
GF: Ja. Solange wir unsere wahre Natur nicht erkennen wollen, werden wir mehr oder weniger immer unbewußt und aus Gewohnheit handeln müssen. Yoga lehrt uns, wie wir uns allmählich aus dem Unbewußten befreien können, das von dem Zwang karmischer Notwendigkeit regiert wird. Wenn wir den Spiegel unserer Seele ausreichend genug poliert haben und darin unser wahres, ursprüngliches Gesicht erblicken, dann können wir in Freiheit leben. Selbst wenn wir für den Rest unseres Lebens von mächtigen eisernen Ketten gefesselt sein sollten, würden wir uns weder unfrei noch unglücklich fühlen. Erleuchtung hängt nicht von irgendwelchen äußeren Bedingungen ab. Erleuchtung ist niemals endende Leichtigkeit. Die große Kraft des Yoga liegt darin, daß es uns helfen kann, uns zu erinnern wer wir wirklich sind.
Herr Feuerstein, ich danke Ihnen für dieses Gespräch.
Die Yoga Tradition von Georg Feuerstein
Über 5000 Jahre Yoga-Philosophie und Praxis in einem Kompendium. Gebundene Ausgabe, 696 Seiten.
Das Buch „Die Yoga Tradition“ kaufen