In unserer Ausgabe Oktober/November 2023 findest du ein Interview mit dem Advaita-Lehrer, Tantra-Experten und Künstler Igor Kufayev. In diesem Gespräch, in dem es um die Erfahrung von Schönheit als unmittelbare Kommunion mit dem Göttlichen geht, erläuterte er auch die Grundbegriffe aus dem berühmten altindischen Quelltext Natyashastra.
Diesen Auszug des Gesprächs findest du exklusiv online, die Ausgabe mit dem Interview kannst du hier bestellen – oder du rufst den Beitrag im Rahmen des Online-Abos ab.
Igor Kufayev über Rasa und Bhava:
„Rasa“ ist ein äußerst komplexer Sanskrit-Begriff, der je nach Kontext auf vielerlei verschiedene Weisen übersetzt werden kann. Im Ayurveda beispielsweise bezeichnet er Geschmacksrichtungen oder Aromen. Seiner Etymologie nach meint er die Qualität von Saft, die Essenz oder ein Mark. Man kann ihn aber auch auf unsere Empfindungen beziehen, und deshalb hat er eine Relevanz für die Felder von Dramaturgie, Theater und Kunst. Von hoher Bedeutung ist hier seine Verwendung im Natyashastra, der ältesten Abhandlung über das Drama, das die Matrix alle Künste darstellt und aus dem sämtliche Künste entspringen. Nicht nur in Indien, sondern auch im antiken Griechenland, der Wiege der westlichen Zivilisation, war es das Theater, wo ausnahmslos alle Formen der Kunst ihren Ursprung nahmen.
Rasas entsprechen den Reaktionen in unserer Empfindungswelt, die wir erfahren, wenn wir mit bestimmten Ausdrucksgestalten eines Stücks konfrontiert werden (und dies lässt sich auf alle Formen von Kunst ausweiten). Diese wiederum sind mit der Art und Weise der Wahrnehmung verknüpft, auf die wir gepolt sind, und damit, wie wir Emotionen ausdrücken, wofür unsere Empfindungen eine ganz maßgebliche Rolle spielen.
Das Natyashastra stellt diese Verbindung her, da es thematisiert, wie Kunst als Brücke zur Essenz unserer selbst dienen kann, an die wir ansonsten vielleicht nur noch eine schwache oder gar keine Anbindung mehr haben. Die Chance auf Rückverbindung steht somit der breiten Masse durch die Erfahrung, die in der Kunst ermöglicht wird, zu Verfügung.
Bhava ist demgegenüber das Verweilende, sozusagen der Nachgeschmack, der nach der Erfahrung einer bestimmten Empfindung zurückbleibt, so wie nach dem Verbrennen von Räucherwerk der Duft noch eine ganze Weile im Raum bleibt. Es ist die Nachwirkung, mit der wir zurückgelassen werden. Das spontane Empfinden übersetzt sich nun also in einen Gefühlszustand, wofür „Bhava“ hier steht. Und wie wir wissen, gibt es einen tiefen Zusammenhang zwischen Empfindungen und Gefühlen. Emotionale Empfindungen sind eher flüchtig, so dass sich Rasas fortwährend verändern, wohingegen Gefühle dauerhafter sind. Wenn wir unsere Gefühlswelt erforschen, erkennen wir das. Wir können schnell von einem Rasa in den anderen wechseln, aber wenn sich ein Gefühlszustand eingestellt hat, so ist dieser von einer gewissen Dauer.
Rasas sind dazu da, bestimmte Gefühlszustände heraufzubeschwören, die uns viel stärker mit dem in Kontakt bringen, was wir fühlen sollen. Denn diesem Tiefgang zufolge, der in der indischen Tradition zu finden ist, sind wir hier, um zu fühlen. Wir sind hier, um die gesamte Fülle dessen zu fühlen, was wir sind, und diese ist nicht trennbar vom vollständigen Spektrum an Fülle überhaupt. Und dennoch werden all die verschiedenen Farben und Schattierungen erhellt von dem einen und einzigen transzendenten, transluzenten Rasa, der als Shanta bekannt ist und von Abhinavagupta etabliert wurde, der das Natyashastra durch seinen berühmten Kommentar veredelte, und es dadurch aus der säkularen Domäne rettete und es durch ein tantrisches Verständnis in der vedischen Kultur verankerte. Er bringt den neunten Rasa ein (die klassischen Rasas der emotionalen Empfindungen sind acht an der Zahl), nämlich Shanta-Rasa, und betont, dass es sich bei den Rasas um verschiedene Regenbogenfarben des Spektrums handelt, die von dem einen transluziden Licht des Bewusstseins erleuchtet werden. Dies ist es, was wir zu Beginn jeder Erfahrung sind, und wohin die Erfahrung auch wieder zurückkehrt – und was dem vollen Kreis ermöglicht, sich zu schließen, so dass wir wieder in unserer Essenz verweilen. Es ist eine Heimkehr.