Leben als Experiment: Der bekannte Tantriker Daniel Odier über authentischen Tantra-Yoga, das Geheimnis des kosmischen Körpers und zwischenmenschliche Beziehungen ohne die üblichen Deals
Das Interview mit dem Tantra-Meister Daniel Odier, der das gängige Tantra-Verständnis im Westen in seinen Grundfesten erschütterte und gleichzeitig auf einen seriösen Boden stellte, fand an Allerheiligen 2007 während eines Tantra-Seminars auf Schloss Glarisegg am Bodensee statt. Es war ein Interview der anderen Art, tantrisch spontan und höchst lebendig. Eine halbe Stunde nach der Begrüßung saßen wir in einem eleganten Hotel am See, und Daniel Odier beantwortete zwischen Essen und Trinken unbefangen und ohne jegliche aufgesetzten Meisterattitüden meine Fragen. Die Atmosphäre war wunderbar leicht und locker, und ich befand mich zwischendurch zweifellos sekundenlang in dem von Odier propagierten „weiten Raum“, getragen von seiner Kraft, Spontaneität und menschlichen Wärme. Eigentlich hatte ich mir, nach der Lektüre seines Klassikers „Tantra – Eintauchen in die absolute Liebe“, einen Asketen vorgestellt, da er sich während seiner Lehrzeit bei der tantriscchen Yogini Lalita Devi im Himalaya schwierigen Prüfungen unterziehen und zahlreiche Entbehrungen ertragen musste.
Doch ein vom Leben abgewandter Asket ist Daniel Odier ganz und gar nicht. Seine wachen Augen strahlen Liebe und Wärme sowie eine ansteckende Lebensfreude aus. Er ist kein Lehrer, der sich hinter spirituellen Phrasen oder künstlicher Distanz versteckt. Er ist voll und ganz da, präsent im Hier und Jetzt. Was er sagt, hat er erlebt, davon war ich im Gespräch mit ihm schnell überzeugt. Und auch davon, dass er suchenden Menschen das Geheimnis des Lebens enthüllen und sie auf dem Weg der spontanen Erweckung führen kann, der das spontane Erkennen unseres göttlichen Wesens beinhaltet, das sich im „inneren Erschauern“, dem Vibrieren der Nicht-Dualität, manifestiert.
Marianne Scherer: Was ist Tantra?
Daniel Odier: „Tantra“ kommt von „tan“, was soviel wie Ausdehnung, Ganzheit bedeutet. Dieser mystische Weg hat sowohl den Buddhismus als auch den Hinduismus stark beeinflusst. Tantra hat allerdings rein gar nichts damit zu tun, was die Leute im Westen sich normalerweise darunter vorstellen. Es wurde in vieler Hinsicht missverstanden und im Westen häufig lediglich auf sexuelle Techniken reduziert. Der shivaitische Tantrismus, in dessen Tradition ich stehe, ist in Wirklichkeit ein sehr ungewöhnlicher innerer Pfad. Es ist ein mystischer Pfad, der durch Dichtung und den „kosmischen Körper“ beschrieben wird. In […]