Viele Menschen machen in ihrem Leben traumatische Erfahrungen. Die Auswirkungen, die solche Erlebnisse auf das ganze Leben haben, sind drastisch und wirken sich massiv auf den Körper, die Seele und das Erleben der Betroffenen aus. Auch Yogalehrer sind immer wieder mit der Thematik konfrontiert, z.B. im Rahmen von sozialen Projekten oder weil auch während des Unterrichts alte Wunden bei Schülern aufbrechen oder verdrängte Gefühle und Bilder hochkommen können. Vielleicht ist deshalb das Interesse am Thema Trauma zur Zeit auch in Yogakreisen so hoch. Wir haben Expertin Dagmar Härle – Psychotraumatologin, Buchautorin und Yogalehrerin in Basel – gefragt, welchen Beitrag Yoga zur Bewältigung traumatischer Erfahrungen beitragen kann und was das Besondere an traumasensitivem Yoga ist.
Interview
Yoga Aktuell: Wann sprechen wir von einem Trauma?
Dagmar Härle: Kurz zusammengefasst haben wir es mit Ereignissen zu tun, die das Leben oder die Gesundheit des Betroffenen oder eines nahe stehenden Menschen bedrohen, sowie mit der Zeugenschaft solchen Geschehnisse. Wir unterscheiden einmalige und langanhaltende sowie akzidentelle (unfallbedingte) und durch Menschen verursachte Traumata.
Die „klassischen“ Symptome einer Traumafolgestörung können in folgende Symptomgruppen unterteilt werden:
• Intrusionen (Eindringende, nicht kontrollierbare Sinneseindrücke)
• Übererregung (Überwachsamkeit, Daueranspannung, Schlaf- und Konzentrationsprobleme)
• Bewusstseinsveränderung (Dissoziation/Abspaltung, emotionale und körperliche Taubheit)
• Vermeidung (Vermeidung von bestimmten Reizen, bewusst oder unbewusst)
Bei komplexen Traumafolgestörungen gibt es viele weitere mögliche Symptome wie z.B. eine anhaltende depressive Stimmung, Isolation, Scham-, Schuld- und Ohnmachtsgefühle.
Die meisten Menschen denken bei Trauma vor allem an einmalige, heftige Erlebnisse wie einen Unfall, eine Gewalterfahrung oder Krieg. Es gibt aber auch so etwas wie Entwicklungstraumata. Können Sie kurz beschreiben, was das ist und welche Symptome auf ein solches Trauma hinweisen?
Definieren wir „Kindheitstrauma“ so unterscheiden wir eine aktive Form – wie z.B. durch Gewalt und Missbrauch – und eine passive Form – z.B. durch Vernachlässigung. Vernachlässigung kann körperlicher oder emotionaler Natur sein. Vergessen werden dürfen hier auch nicht die seelischen Misshandlungen wie Demütigung, Einsperren, Isolation etc. Ein noch in der Entwicklung begriffenes Gehirn wird dann von Stresshormonen überflutet.
Die Symptome von anhaltenden Kindheitstraumata sind vielfältig und haben weitreichende Auswirkungen. Die Ergebnisse der sogenannten ACE Studie (Adverse Childhood Experience) zeigen eine deutliche Verbindung zwischen schädlichen Kindheitserlebnissen und chronischen physischen und psychischen Erkrankungen im Erwachsenenalter. So ist etwa das Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Krebs, aber auch für Depressionen, Angst- und Suchterkrankungen bei Menschen mit einer traumatischen Kindheit erhöht.
Was wäre ein Indiz dafür, dass es für mich lohnenswert sein könnte, mich mit dem Thema einmal auseinanderzusetzen?
Ein Grund könnte sein, dass Sie in letzter Zeit etwas erlebt haben, das Sie auch nach Wochen noch verfolgt, Sie mit Erinnerungen quält, Ihnen den Schlaf und Ihre innere Ruhe raubt. Ein anderer Grund wäre, dass Sie Probleme wie Depression, Ängste, Zwänge oder eine generelle Unzufriedenheit mit Ihrem Leben mit Ihrer schwierigen Kindheit in Zusammenhang bringen und sich dem stellen wollen.
Warum sollten sich Yogalehrer mit dem Thema beschäftigen?
Weil wir – vorausgesetzt wir sind gut ausgebildet – eine zusätzliche Behandlungsform anbieten können. Und natürlich auch, weil wir nie wissen können, wer bei uns in der Yogaklasse sitzt. Mein Yogaunterricht in normalen Klassen hat sehr von den Prinzipien des Traumasensitiven Yoga (TSY) profitiert. Die Rückmeldungen bestätigen, dass offene Formulierungen, Angebote und Einladungen allen gut tun.
Womit sollte man vorsichtig sein, wenn man nicht weiß, ob jemand im Raum von einem Trauma betroffen ist?
Es kann für Schüler beängstigend und verunsichernd sein, wenn ein Lehrer währenddessen durch den Raum geht und durch Hands on korrigiert. Es kann sein, dass sich ein Betroffener vielleicht nicht entspannen oder konzentrieren kann, wenn er nicht weiß, ob jemand hinter ihm steht oder er damit rechnen muss, berührt zu werden. Auch die Berührung selbst kann schwierig sein.
Ein weiteres Thema ist, dass Korrekturen bei traumatisierten Personen schnell zu Schamgefühlen führen können. Es gilt also vorab zu klären, wer auf welche Weise korrigiert werden möchte und es sollte als „normale“ Möglichkeit gelten, nicht angefasst werden zu wollen.
In traumasensitiven Yogaklassen bleiben wir als Lehrer auf der Matte bzw. auf dem Stuhl und kündigen das auch an. Korrigiert wird nur, falls sich ein Übender selbst Schaden zufügen könnte und auch dann geschieht die Korrektur nur verbal. Ich mache es beispielsweise „falsch“ vor, erkläre, warum es schadet und zeige es „richtig“ – wobei ich diese Worte vermeide.
Ein Trauma ist verbunden mit einem zutiefst empfundenen Kontrollverlust. Daher lege ich Wert auf ein Setting, in dem der Übende die Kontrolle darüber behält ob, wie intensiv und wie lange er eine Übung machen möchte. Auch gebe ich verschiedene Möglichkeiten der Ausführung zur Auswahl. Sich in einer Yogaklasse wiederzufinden, in der auf Leistung wert gelegt wird oder in der eine korrekte Ausführung eines Asanas oberste Priorität hat, kann dazu führen, dass ein Betroffener dissoziiert, sich von seiner Erfahrung abkoppelt und einfach „durchhält“ oder seine selbstverletzenden Tendenzen auslebt, indem er über seine Grenzen geht.
Auch sehr langes Schweigen kann für manche Traumatisierte schwer auszuhalten sein. Daher ist es für die Betroffenen hilfreich, wenn sie beispielsweise während der Entspannung den Raum verlassen können – was ohnehin jederzeit möglich sein sollte. Auch gedimmtes Licht kann Angst machen.
Was ich von Patienten schon gehört habe ist, dass Yogalehrerinnen wohlmeinend am Ende der Stunde ein Gespräch über die Empfindungen beginnen wollen oder rückmelden, dass sie das Gefühl haben, die Betreffende „könne sich nicht ganz einlassen“. Solche Gesprächsangebote oder Kommentare lösen bei machen Betroffenen Schamgefühle und Fluchtimpulse aus.
Im Yoga sind wir ganz verbunden mit dem Körper und der Erfahrung des Hier und Jetzt – zumindest ist das ein Ziel. Für manche meiner Patientinnen ist das recht anspruchsvoll und ich habe beobachtet, dass sie sich manchmal „ablenken“ müssen, um sich wieder auf sich einlassen zu können. Beispielsweise spielte eine Patientin immer wieder mit ihrem Handy. Solche Handlungen sind erlaubt und bleiben unkommentiert.
Warum ist Yoga für Menschen mit Trauma-Erfahrungen so lohnenswert?
Yoga bedeutet zunächst eine achtsame Begegnung mit sich selbst. Im Gegensatz zu Beziehungen mit anderen Menschen, die als fordernd und verunsichernd erlebt werden können, wird hier ein Erfahrungsraum geöffnet, in dem es keine Forderungen, kein richtig oder falsch gibt. Zudem ist die Erfahrung, dass man mit körperlichen Übungen seine affektiven Zustände beeinflussen kann, ein weiteres grosses Plus. Yoga erhöht die Ausschüttung von Neurotransmittern, die beruhigend und entspannend wirken – das haben Studien bewiesen.
Wieso spielt der Körper so eine große Rolle in der Bewältigung von Trauma?
Bei niedriger und mittlerer Erregung, können wir unser System meist mit motivierenden Gedanken oder logischen Argumenten selbst beruhigen. Wir können quasi von oben oben nach unten – „top down“ – Einfluss auf unseren Körper und unser Befinden nehmen. Je höher aber die Erregung steigt, desto weniger greifen diese kognitiven Strategien. Wir wissen nun auch warum: Bei Traumaerinnerungen in den „niederen“ Gehirnregionen (z.B. der Amygdala), kann gutes Zureden wenig bewirken, denn diese sind kognitiv weder erreichbar noch beeinflussbar.
Folglich brauchen wir Hilfsmittel, die uns dabei unterstützen, die automatische Kaskade der biologischen Reaktionen zu unterbechen bzw. abzubremsen. Erst wenn die Erregungskurve gesunken ist, wir unserem Körper und unserer Biologie wieder kontrollieren und uns selbst als effizient wahrnehmen können, gelangt der kognitive Teil unseres Gehirns zu seiner vollen Leistungsfähigkeit. Dann können wir mit Abstand über das Geschehen nachdenken und es in den Kontext unseres Lebens einordnen. Wie erreichen wir aber die Amygdala?
Hier können wir auf die Erfahrung der Yogis und das Konzept des „Emobodiments“ zurückgreifen: Wir wissen, dass auch unser körperlicher Ausdruck unsere Stimmungslage beeinflusst – also „bottom up“. Besonders interessant ist das, weil unsere Haltungs- und Bewegungsmuster einen direkten Draht zu unseren niederen Hirnregionen haben. Diesen Umstand nutzen wir im Yoga. Über die Haltung und Bewegungen unseres Körpers zu reflektieren, sie zu erforschen und zu verändern ist ein altes und probates Mittel, um unsere Affekte zu regulieren. Andere Kulturen können uns auf diesem Gebiet als Vorbild dienen: Tanz, Rhythmus, Trommeln und Bewegung sind etwa in afrikanischen Kulturen tief verwurzelt und halfen den Menschen von jeher, ihre Emotionen zu regulieren. Fernöstliche Wege kennen wir als Tai Chi, Qi Gong und Yoga. Allen gemeinsam ist, dass sie den Körper und seine Ausdrucksmöglichkeiten nutzen, um wieder zu sich zu kommen, sich zu fokussieren und Altes zu transformieren.
Was ist das Besondere an traumasensitivem Yoga? Wo liegt der Unterschied zu einer „normalen“ Unterrichtsstunde?
Das traumasensitive Yoga basiert auf den Erkenntnissen der neuesten Traumaforschung, der Neurophysiologie und der Bindungstheorie. Dementsprechend werden die Prämissen auf diese Erkenntnisse bezogen:
1. Den Körper wieder spüren
Ein bewusster, angepasster Sprachgebrauch ermöglicht dem Übenden, sich auf den Körper und seine Empfindungen wie Dehnung, Gewicht, Kontakt, Temperatur etc. zu fokussieren. Damit fördern wir die sog. „interozeptive Wahrnehmung“, durch die wir Botschaften aus dem Innern unseres Körpers wahrnehmen und für uns nutzen können. Für Traumapatienten heisst dies z.B., den Anstieg einer Anspannung früh wahrzunehmen und sich bewusst zu entspannen, bevor die Gefühle überwältigend werden.
2. Im Hier und Jetzt bleiben
Wenn vergangenheitsbezogene Gedanken von traumatischen Erinnerungen geprägt sind und die Zukunft ängstigt oder sich hoffnungslos und eingeschränkt anfühlt, ist die Fähigkeit, in der Gegenwart zu bleiben, besonders wichtig. Bleiben wir präsent, erhalten wir ein Gefühl der Selbstwirksamkeit, wir können dem Sog der Vergangenheit etwas entgegensetzen.
3. Wahlmöglichkeiten nutzen
Trauma bedeutet, keine Wahl zu haben, ausgeliefert zu sein. Bieten wir im TSY Wahlmöglichkeiten an, helfen wir den Betroffenen, aus der Ohnmacht und Hilflosigkeit herauszutreten.
4. Effektive Handlungen ausführen
Indem die Betroffenen ihre interozeptiven Wahrnehmungen spüren, können sie überhaupt erst die angebotenen Wahlmöglichkeiten nutzen und daraus entstehen effektive Handlungen. Beispielsweise: Mir wird vorgeschlagen, die Arme parallel zum Boden oder höher zu halten. Ich spüre, sobald ich die Arme über den Kopf hebe, dass es mir wohler ist, wenn die Arme parallel zum Boden halte. Ich nutze die Wahlmöglichkeit. Das mag banal klingen, ist jedoch ein wichtiger Schritt in Richtung Selbstwirksamkeit.
5. Den Rhythmus des Körpers erleben
Traumatisiert sein heisst für viele Menschen, in einem eingefrorenen Zustand von Schmerz, Angst oder Taubheit zu leben. Leben jedoch ist Rhythmus. Betrachten wir eine Abfolge von Yogahaltungen, so folgen diese ebenfalls einem Rhythmus: Wir nehmen eine Haltung ein, verweilen und lösen sie wieder auf. Bevor wir das nächste Asana anstreben, spüren wir der Wirkung nach und geben uns Zeit, bis wir wieder bereit sind, weiter zu üben. Auch in der An- und Entspannung eines Muskels können wir einen Rhythmus erkennen. Diese Erfahrungen zeigen den Übenden, dass es zwischen An- und Entspannung eine Verbindung gibt, ein sich allmählich veränderndes Gefühl.
Sie bieten Einzelstunden, aber auch Gruppenunterricht für Traumapatienten an. Wie sind Ihre Erfahrungswerte?
Der Gruppenunterricht ist eine wertvolle Ergänzung zur Therapie. Wenn ein Asana eine positive Wirkung zeigt, können wir dies in der Einzeltherapie nutzen, wenn wir über schwierige Themen sprechen – so dass es nicht zu einer Überflutung mit Emotionen kommt. Das Selbstwirksamkeitserleben ist für viele Patienten ein erster, wichtiger Schritt, um sich überhaupt ihrer Vergangenheit stellen zu können.
Wie sind die Rückmeldungen der Beteiligten?
Zum Beispiel:
„Ich freue mich jeweils auf die entspannende Stunde am Donnerstagabend.“
„Die Yogagruppe hat mir erst ermöglicht, mich in der Therapie meinen Traumata zu stellen. Vorher war da gar kein Körper und keine Verbindung.“
„Ich war froh, dass die Lehrerin immer und immer wieder betont hat, dass man weder etwas spüren muss noch dass man etwas falsch machen kann. Ich konnte aufhören, mich ständig selbst zu bewerten oder mit anderen zu vergleichen, wenn wir gemeinsam Yoga machten. Das hat mich sehr entlastet und mir ermöglicht, mich überhaupt einzulassen.“
Inwiefern hilft Ihnen Yoga?
In meinen Buch „Traumasensitives Yoga“ habe ich geschrieben: „Therapeuten müssen Experten in der Modulation von Erregungszuständen werden und diese Fähigkeit zunächst selbst erwerben. In der Lage, mit ihren eigenen Erregungszuständen umzugehen, können Therapeuten den Patienten helfen, die ihren in den Griff zu bekommen.“ Yoga hilft mir, neben den wohltuenden Effekten auf meine Beweglichkeit und Kraft, mich immer wieder auf den gegenwärtigen Moment zu fokussieren, präsent zu bleiben und damit meinen Patienten ein wirkliches Gegenüber zu sein. So kann ich in Resonanz gehen, um mich in die Erfahrung der Patienten einzufühlen – aber auch wieder zu mir zurück finden und mich erden.
Dagmar Härle ist Psychotraumatologin, Buchautorin und Yogalehrerin. Sie arbeitet in Basel in eigener Praxis, gibt TSY Kurse für Patienten und bildet YogalehrerInnen und TherapeutInnen in TSY aus. Auf Facebook und auf Ihrer Website www.trauma-institut.eu finden sich aktuelle Termine sowie ein TSY-Video für Betroffene.
Dagmar Härle hat zwei Bücher zum Thema verfasst: „Körperorientierte Traumatherapie – Sanfte Heilung mit traumasensitivem Yoga“ und „Praxisbuch traumasensitives Yoga“ (ET: Oktober 2016).