Thich Nhat Hanh war Friedensaktivist, Autor, Poet und einer der wichtigsten buddhistischen Achtsamkeitslehrer der Gegenwart. Dieses Portrait gibt Einblicke in sein facettenreiches Leben und Wirken – als Versuch einer kleinen Annäherung an eine große spirituelle Persönlichkeit.
Etwas Persönliches vorweg: Thich Nhat Hanh ist der sanfteste und bescheidenste Mönch, der mir je begegnet ist. Ich erinnere mich an unser erstes Treffen so, als wäre es gestern gewesen: Ich traf ihn – ich glaube, es war 2004 – auf einem Tag der Achtsamkeit im Intersein-Zentrum für Leben in Achtsamkeit, seinem buddhistischen Zentrum im Bayerischen Wald. Einen ganzen Tag lang gingen, aßen und meditierten rund dreihundert Menschen achtsam zusammen. Es war eine außergewöhnliche Erfahrung, dass so viele Menschen zusammen Achtsamkeit praktizieren konnten. Als Thay, wie seine Schüler ihn gerne bezeichnen, einen Vortrag hielt, habe ich die ganze Zeit geweint. Seine Worte habe ich nicht gehört, aber es war so, als hätte sein Herz die ganze Zeit zu meinem gesprochen. Dieser Moment ist mir als kleine Perle bis heute besonders in Erinnerung geblieben. Das nächste Mal begegnete mir Thich Nhat Hanh in München. Ich war zu einer Pressekonferenz eingeladen, die in einem Gebäude auf dem Marienplatz stattfand. Ich war früh dran und stand auf dem damals sehr turbulenten Platz, den unaufhörlich viele Menschen überquerten, die dabei gestresst und getrieben wirkten. Plötzlich sah ich eine kleine Gruppe von buddhistischen Mönchen. Sie trugen braune Mönchskutten und gingen hintereinander achtsam Schritt für Schritt auf das Pressezentrum zu. Ich erkannte Thich Nhat Hanh, der die Gruppe anführte und von Sister Chan Kong, seiner engsten Mitarbeiterin und Ordensschwester, begleitet wurde. Die kleine Gruppe wirkte auf mich, als wäre sie aus der Zeit gefallen. Gleichzeitig hatten ihre achtsamen Schritte etwas so Wunderschönes und Zeitloses an sich, dass sie so wahrhaftig wirkten, während all die anderen Menschen wie ferngesteuert über den Platz huschten. Ich war berührt und musste gleichzeitig lachen, weil sie so vollkommen friedvoll gingen und von dem Strom der vielen gehetzten Menschen unbeeindruckt blieben. Ich wurde Zeugin von gelebter Achtsamkeit. In diesem Moment verstand ich auch, warum Dr. Martin Luther King Thich Nhat Hanh als „einen Apostel des Friedens und der Gewaltfreiheit“ bezeichnet hatte, als er ihn 1967 für den Friedensnobelpreis nominierte.
Wer an einem Retreat mit ihm teilgenommen hat, eines seiner Bücher gelesen oder einem seiner Vorträge gelauscht hat, wurde von seinen Lehren im Herzen berührt. Das liegt meiner Ansicht nach daran, dass es ihm wie kaum einem anderen Menschen gelingt, Menschen mit dem zeitlosen Strom der Weisheit, des Mitgefühls und der Achtsamkeit zu verbinden.
Der Anfang
Thich Nhat Hanh (ausgesprochen „Tik Njat Haan“) wurde 1926 in Vietnam geboren. Schon als Kind begann Thay, eifrig buddhistische Bücher und Zeitschriften zu lesen. Gerne sprach er diesbezüglich von einem entscheidenden Moment, als er im Alter von neun Jahren das Bild eines friedvollen Buddha auf dem Titelblatt eines buddhistischen Magazins sah. Die Darstellung hinterließ bei ihm einen bleibenden Eindruck von Frieden und Ruhe. Sie stand in krassem Gegensatz zu der Ungerechtigkeit und dem Leid, das er angesichts der französischen Kolonialherrschaft um sich herum wahrnahm. Das Bild weckte in ihm den klaren, starken Wunsch, genau wie dieser Buddha zu werden: jemand, der Ruhe, Frieden und Gelassenheit verkörpert und seinem Umfeld helfen kann, ebenfalls ruhig, friedlich und gelassen zu sein.
Etwa zwei Jahre später, bei einem Schulausflug, erlebte Thay seine erste spirituelle Erfahrung. Als seine Mitschüler sich zum Essen setzten, schlich er sich davon, um einen alten Einsiedler zu finden, von dem das Gerücht ging, dass er dort lebe. Er fand ihn nicht, traf dafür aber, erhitzt und durstig, auf einen natürlichen Brunnen mit frischem, reinem Wasser. Er löschte seinen Durst, fiel dann in einen tiefen Schlaf und erfuhr, durch dieses Erlebnis ausgelöst, ein intensives Gefühl von Zufriedenheit. Er fühlte sich ganz erfüllt davon, das Wasser gefunden zu haben. Er spürte, dass er dem Einsiedler in gewisser Weise in Gestalt des Brunnens begegnet war und die beste Quelle gefunden hatte, seinen Durst zu löschen. „Von diesem Tag an“, sagte er, „wollte ich Mönch werden.“
Leben im Osten
Mit sechzehn Jahren begann Thay mit der Ausbildung in der vietnamesischen Zen-Tradition und legte nach drei Jahren Unterweisung offiziell die Novizengelübde ab. Währenddessen und auch in den kommenden Jahren wurde er Zeuge der Kriegswirren in Vietnam. Immer wieder sah er auf den Straßen die Leichen derer, die verhungert waren, und wurde Zeuge davon, wie Lastwagen Dutzende von Leichen abtransportierten. Im ersten Indochinakrieg (1946–54) erlebte er, dass die Scharmützel und die Gewalt weder die Mönche noch die Tempel verschonten. Die Tempel wurden vielfach zur Zufluchtsstätte für Revolutionäre, die vor den Franzosen flohen. Obwohl unbewaffnet und gewaltlos, wurden viele Mönche, darunter einige enge Freunde von Thay, getötet. Französische Soldaten überfielen auf der Suche nach Widerstandskämpfern oder Nahrung häufig die Tempel.
Seit den frühen 1950er Jahren engagierte Thich Nhat Hanh sich sehr aktiv für die Erneuerung des vietnamesischen Buddhismus, 1956 wurde er zum Chefredakteur von Vietnamese Buddhism ernannt und tat alles, um Versöhnung und einen Geist der Zusammengehörigkeit zwischen den Buddhisten des Nordens und des Südens zu fördern. Im Angesicht der Kriege sah er sich mit der Frage konfrontiert, ob er am kontemplativen Leben festhalten und weiterhin im Kloster meditieren sollte, oder ob er den Menschen helfen sollte, die schwer unter den Kriegswirren litten. Er entschloss sich, beides zu tun, und begründete damit die Bewegung des „Engagierten Buddhismus“. Von dieser Zeit an widmete er sein Leben und seine Lehre der inneren Transformation zum Wohle des Einzelnen und der Gesellschaft.
1958 musste Thay fast einen Monat lang im Krankenhaus von französischen Ärzten behandelt werden. Er hatte Probleme mit dem Herzen, der Lunge und seiner Verdauung, litt unter chronischer Schlaflosigkeit, und selbst die Ärzte konnten ihm nicht helfen. Thay beschrieb diese Phase später als eine Zeit tiefer Depression. Er erfuhr, dass er wirkliche Heilung nur erleben werde, wenn es ihm gelingen würde, in vollem Gewahrsein zu atmen und zu gehen. Im Zuge seines eigenen Leids entdeckte er für sich selbst eine heilende Art der Meditation. Er verband beim Gehen seinen Atem und seine Schritte, und statt nur den Atem zu zählen, zählte er die Schritte in Einklang mit dem Atem. Mit der daraus erwachsenden Konzentration gelang es ihm, nicht länger von starken Gefühlen des Schmerzes und der Verzweiflung überwältigt zu werden. Die Praxis des achtsamen Atmens war geboren.
Im Jahr 1966 gründete er den Intersein-Orden, eine neue Gemeinschaft, die auf den traditionellen Lehren des Buddha basiert. Die Mitglieder engagieren sich in der praktischen Umsetzung der buddhistischen Lehre in konkreten Sozial- und Friedensprojekten.
Um für den Frieden zu werben, reiste Thich Nhat Hanh in die USA und nach Europa. Er wollte ein Ende der Feindseligkeiten in Vietnam fordern. Im Jahre 1966 traf er während einer Reise zum ersten Mal Dr. Martin Luther King, der ihn 1967 für den Friedensnobelpreis nominierte. Aufgrund seiner Friedensmission verbot man ihm, nach Vietnam zurückzukehren, und so begann ein lange währendes Exil.
Wirken im Westen
Im Jahre 1982 gründete Thich Nhat Hanh in Frankreich Plum Village. Hier finden seitdem jedes Jahr Retreats statt, die von tausenden von Menschen aus der ganzen Welt besucht werden. Unter der spirituellen Leitung von Thich Nhat Hanh entwickelte sich Plum Village zum heute größten buddhistischen Kloster des Westens. Hier leben über zweihundert Mönche und Nonnen, und mehr als zehntausend Besucher reisen jedes Jahr aus der ganzen Welt an, um Meditation und Achtsamkeit zu erlernen. In Plum Village schrieb Thay zahlreiche Bücher, die sich in einfachen Worten an ein westliches Publikum wenden und zeigen, wie man die buddhistische Lehre leicht in den Alltag integrieren kann.
Thay hat die Weiterführung des sozialen Engagements für Vietnam nie aus dem Auge verloren. Neben Projekten für die medizinische Versorgung zählt hierzu auch die Unterstützung der Boat People, jener Flüchtlinge, die aus Vietnam kommen. Im Januar 2005 kehrte der Mönch erstmals nach neununddreißig Jahren Exil wieder nach Vietnam zurück und hielt dort für drei Monate im ganzen Land Vorträge und Retreats. Im Alter von achtundachtzig Jahren erlitt er einen schweren Schlaganfall und zog sich danach aus der Öffentlichkeit zurück.
Thich Nhat Hanh lebte zuletzt im Tu-Hieu-Tempel in Vietnam, wo er mit sechzehn Jahren durch seinen Lehrer ordiniert worden war. Es war sein Herzenswunsch, den Rest seiner Zeit dort zu leben. Sein Gesundheitszustand schwankte zuletzt immer wieder sehr, und seine Schüler weltweit waren in Phasen, in denen es ihm schlecht ging, in Gedanken stets voller Liebe bei ihm. Thich Nhat Hanh verstarb am 22. Januar 2022.
Wer an einem Retreat mit ihm teilgenommen hat, eines seiner Bücher gelesen oder einem seiner Vorträge gelauscht hat, wurde von seinen Lehren im Herzen berührt. Das liegt meiner Ansicht nach daran, dass es ihm wie kaum einem anderen Menschen gelingt, Menschen mit dem zeitlosen Strom der Weisheit, des Mitgefühls und der Achtsamkeit zu verbinden.
Zum Weiterlesen:
- Thich Nhat Hanh, deutsch von Ursula Richard: Mein Leben ist meine Lehre. Autobiographische Geschichten und Weisheiten eines Mönchs, O.W. Barth
- Thich Nhat Hanh, deutsch von Jochen Lehner: Leben ist, was jetzt passiert. Das Geheimnis der Achtsamkeit, Lotos Verlag
- Thich Nhat Hanh, deutsch von Ursula Richard: Versöhnung mit dem inneren Kind. Von der heilenden Kraft der Achtsamkeit, O. W. Barth