Der junge Freiburger Philosoph Jan Kerkmann, der sich zuletzt in Cambridge aufgehalten hat, hat mit „Unendliches Bewusstsein“ nicht nur eine gründliche und erhellende ideengeschichtliche Studie zum Idealismus vorgelegt, die den britischen Empirismus seit 1710 mit der deutschen Transzendentalphilosophie bis 1844 ins Gespräch bringt. Auch systematisch ist seine Arbeit aktuell und bedeutsam, indem sie Grundfragen der Metaphysik zumindest ansatzweise mit Grundfragen der Neurowissenschaften und Traumforschung in Berührung bringt. Dass dabei immer wieder auch die Sprache selbst in den Fokus gerät, wundert – nicht erst seit Descartes und Wittgenstein – niemanden.
Was Berkeley, Kant und Schopenhauer eint, ist der Abschied sowohl vom naiven Realismus als auch von dogmatischer Metaphysik. Es gibt keine vom Subjekt, seinen Wahrnehmungen, seinem Bewusstsein unabhängige Außenwelt. Mit dieser Erkenntnis des Immaterialismus wurde zugleich aber auch das Tor zum Skeptizismus, Relativismus, Nihilismus und Atheismus aufgestoßen, und Kerkmann zeigt detailliert, wie jeder der drei Denker versucht, diesen intuitiv als gefährlich erkannten Abwegen und Abgründen zu entgehen. Redlichkeit und Wahrhaftigkeit zeichnen daher nicht nur die drei gewählten Philosophen, sondern auch den Untersuchenden selbst aus, der uns die bis in die Gegenwart reichenden Fragen immer wieder eindringlich vor Augen führt. Zu ihnen gehört neben der Intersubjektivität vor allem die Frage, was Bewusstsein eigentlich ist und worin es seinen Grund hat. Fragen, die auch die Hirnforschung immer noch nicht hinreichend beantwortet hat. Wesen und Leistung der Einbildungskraft und des Urteils werden dabei ebenso dringend wie die Frage nach Zeitlichkeit, Traum und Wirklichkeit und der Bedeutung der Sprache. Nietzsche und Heidegger – mit beiden hat Kerkmann sich lange und gründlich auseinandergesetzt – wesen zwischen den Zeilen häufiger und intensiver an, als sie im Text oder Anmerkungen erwähnt werden. Kerkmann führt akribisch die Spielarten des Idealismus vor, den „schwärmend-mystischen“, des „träumenden“ und den „eigentlichen Idealismus“ und umkreist dabei die andauernde Problematik eines Ideal-Realismus oder magischen Realismus, der ebenso evident wie fragwürdig scheint. Sein als Wahrnehmung, die Welt als Schöpfung des transzendentalen Ich oder als Wille und Vorstellung: Die anthropozentrische oder anthropologische Wendung der Erkenntnis wirft Fragen auf, die die vormals dogmatische Rede von Gott aufheben und neu verstehen lassen. Die Auffassung, Erkenntnis, dass Welt wird, wenn Gott im Menschen denkt, rückt den Begriff des Geistes sowie Fragen nach dessen Ursprung, Qualität und Entwicklung in den Mittelpunkt und ist geeignet, Theologie, Philosophie und Naturwissenschaft miteinander ins Gespräch zu bringen. Einheit, Ewigkeit, Unsterblichkeit, Seligkeit, Freiheit können als mögliche erfahrbare Qualitäten des Bewusstseins und der Seele verstanden werden, die zugleich ethisch und ontologisch bedeutsam und wirksam sind. Unendliches Bewusstsein – Gott oder Geist – ist dann nicht das ganz andere, der Welt und dem Menschen Transzendente, sondern ihr Wesen. Welt und Mensch sind in Gott und Gott ist in der Welt und im Menschen. Gott könnte, folgt man dieser Lesart Kerkmanns, im redlichen Gespräch der Fakultäten auferstehen, nachdem wir ihn, um mit den Worten Nietzsches zu reden, mit einem zu kurz gedachten Materialismus und Reduktionismus getötet haben.
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Jan Kerkmann: Unendliches Bewusstsein. Berkeleys Idealismus und dessen kritische Weiterentwicklung bei Kant und Schopenhauer. Berlin/Boston 2024