Der Filmemacher und frühere ZDF-Korrespondent für Südamerika, Kiu Eckstein, hat in seinem letzten Buch über die Wissenschaft von Kundalini-Vidya seine Begegnung mit einem indischen Kundalini Meister eindrucksvoll beschrieben und darin die Essenz spiritueller Erfahrung zusammengetragen. Schon in den Siebzigerjahren hatte der Autor die Möglichkeit, Filmberichte über den Einfluss magischer Praktiken in Gesellschaft und Politik in Afrika und Südamerika zu verfassen. Eine wichtige Arbeit war die Dokumentation Umgang mit Geistern. Über Brasiliens magische Dimension, die u. a. die Heiltätigkeit der Geistheilerin Cicera Maria aus dem brasilianischen Hinterland zeigt. Diese und auch die von 4,43 Millionen Zuschauern an den Fernsehapparaten verfolgte Dokumentation Ärzte aus dem Jenseits hatten in der Öffentlichkeit zu heftigen Reaktionen geführt.
Kundalini-Erfahrungen
Durch die Beschäftigung mit paranormalen Phänomenen und anlässlich einer späteren Dokumentation über erweiterte Bewusstseinszustände in Medizin und Psychologie (Wahn oder Heilung) erfuhr der Autor von Kundalini-Erfahrungen, weshalb er 1995 an einer Konferenz des Kundalini Research Networks in der Nähe von Philadelphia teilnahm. Drei Schüler berichteten dort von ihren, von einem Swami in Rishikesh begleiteten Kundalini-Prozessen. So kam Eckstein im Februar 1997 zu Chandrasekharanand Saraswati, der seinen Service, der kein üblicher Ashram-Betrieb war, Pantanjali Kundalini Yoga Care (PKYC) nannte und den er schlicht, direkt und sachlich erlebte. Weil jeder Kundalini-Prozess einmalig ist, war die Methode am Prinzip der individuellen Arbeit ausgerichtet. Sie bestand aus mehrstündigen, speziell auf jeden Schüler abgestimmten Übungen. Der Meister verfügte über eine Art der direkten Wahrnehmung (direct perception), womit er feinstoffliche, nicht messbare Vorgänge unmittelbar erfassen konnte. Auch für den Aufenthalt nach der Rückkehr gab der Swami Hinweise. Der feinstoffliche Körper sollte sauber gehalten werden, eine gute Ernährung und ein vernünftiges Leben sind Grundlage für einen störungsfreien Kundalini-Prozess. Dahinter stand das tiefe, durch nichts zu erschütternde Wissen vom Wesen und der Kraft von Kundalini, dass Kundalini Shakti die Manifestation des Einen, das alles enthält, in uns Menschen ist. Kundalini ist eine Manifestation des Göttlichen auf der menschlichen Ebene. Kundalini ist nicht an Ort und Zeit gebunden, sondern stellt ein universales Phänomen dar. Indien erhebt kein Monopol auf Kundalini, verfügt aber möglicherweise über die am genauesten ausgearbeitete Kartographie dieser spirituellen Manifestationen.
Vier Quellen
Das System von Kundalini-Vidya wird aus vier Quellen gespeist, den alten Schriften, der mündlichen Überlieferung, der eigenen unmittelbaren Erfahrung und den Fallstudien. Die alten Quellen beschreiben die sechs Chakras. Aber erst durch die eigene unmittelbare Erfahrung versteht der Meister die verschlüsselten Texte. Fallstudien verdeutlichen die unterschiedlichen Prozesse. Aufgrund seiner eingehenden Kenntnisse und Erfahrungen war Swamiji auch in allen anderen Traditionen zu Hause und half mit praktischen Hinweisen, Blockaden aufzulösen und fehlgeleitete Prozesse zu korrigieren, wobei er immer wieder auf Kundalini-Shakti als die eigentliche Meisterin verwies. In dem sehr detaillierten, medizinisch exakt anmutenden Hauptteil beschreibt Eckstein die Grundlagen und Prozesse von Kundalini anhand der fachlichen Termini. Dabei geht es um Prana, die universelle, lebensspendende kosmische Energie, und um Kriyas, die unwillkürlichen und von spontaner Atmung begleiteten Körperbewegungen, die Blockaden im feinstofflichen Körper auflösen. Wenn sich Prana an bestimmte Körperregionen und Organe anpasst, und dadurch unterschiedliche Funktionen erfüllt, kommen die Vayus ins Spiel. Was in der chinesischen Akkupunktur als Meridian bezeichnet wird, heißt in der indischen Tradition Nadi. Nadis entstehen, wenn Energie zwischen verschiedenen Körperpunkten strömt. Die wichtigsten sechs verschiedenen Nadis werden ausführlich beschrieben, der feinstoffliche Körper enthalte 72.000 Nadis, manche Systeme sprächen sogar von 352.000 feinstofflichen Kanälen. Wo sich viele Energiebahnen treffen, spricht man von Chakras. Wenn Prana seiner Kraft beraubt ist, fließt keine, zu viel oder gestörte Lebenskraft in Körper, Arme oder Kopf. Wenn aber Kundalini nach Lösung der Blockaden bis zum hohen Punkt Makara aufgestiegen ist, beginnt ein langwieriger Reinigungsprozess, der mit tief greifenden Lebensveränderungen verbunden ist. Chandrasekharanand Saraswati studierte bei seinen Arbeitsbesuchen in den USA in den Neunzigerjahren immer wieder Bücher über die Erkenntnisse der Gehirnforschung und fand in ihnen zahlreiche Bestätigungen der grundlegenden Annahmen der von Yogis erarbeiteten Kapala-Vidya. Seine Schüler verwies er zum besseren Verständnis der spirituellen Prozesse und Veränderungen u. a. auf Bücher des portugiesischen Neurowissenschaftlers Antonio Damasio.
Fünf Hüllen
Der grobstoffliche Körper ist von fünf subtileren Hüllen umgeben. Diese umfassen verschiedene Bereiche: den Pranayama-Kosha oder energetischen Leib, die Hülle der Seele, in der die Lebensenergien fließen, die die Denkfähigkeiten und den Verstand beherbergende mentale Hülle (Manomaya-Kosha) und schließlich Vijnanamaya, die eine Art höhere Intelligenz, ein tieferes intuitives Wissen in sich trägt. Diese Hülle ist gleichzeitig Bindeglied zum Kausalleib (Anandamaya-Kosha), der letzten, jenseits der sinnlich wahrnehmbar liegenden Umkleidung unseres Wesenskerns. Die angeborene, unbestechliche und lichtnahe Intelligenz der vierten Hülle wird auch Buddhi genannt. Sie verkörpert den höchsten Aspekt der menschlichen Psyche, der der unentwegt fluktuierenden mentalen Aktivität entrückt ist und ungetrübte, reine Erkenntnis ermöglicht. In die herkömmliche westliche Psychologie hat diese übergeordnete Instanz, die wir tief in unserem Innern spüren, keinen Eingang gefunden. Sie beschränkt sich zumeist auf die mentalen Abläufe der dritten Hülle. Der feinstoffliche Leib, auch Astralkörper genannt, ist das Vehikel für Prana und „mind“, also für alle mentalen Abläufe, die höhere Intelligenz und unser Gewissen. Hält man sich diese Eigenschaften vor Augen, werden außerkörperliche Erlebnisse oder Nahtoderfahrungen sowie die Vorgänge des Sterbens verständlich. Eckstein betont, dass in Kundalini-Prozessen die verschiedenen Hüllen des feinstofflichen Körpers erfahrbar werden.
Der Einfluss von Geistwesen
Als lebensweltliches Phänomen, ist die Ausstrahlung oder Aura eines Menschen jedermann bekannt. Sie deutet an, dass die Sprache vieles weiß, was der Mensch vergessen hat und der feinstoffliche Körper als Realität vorhanden ist. Er ist der Ruderer, der das Boot, den grobstofflichen Körper, bewegt und funktionsfähig macht und enthält auch den Plan für die Entwicklung des physischen Körpers beim Fötus im Mutterleib. Wenn sich im Sterbeprozess der feinstoffliche Körper vom physischen trennt, ist es nachvollziehbar, dass es jenseitige Wesen (astrals genannt) gibt. Sie können auf die diesseitige Welt Einfluss nehmen und über andere Menschen Macht gewinnen. Dies könne so weit gehen, dass Geistwesen Kundalini-Prozesse stören oder sogar anhalten können. Eine erschreckende Erkenntnis Chandrasekharanand Saraswatis war es, in welch hohem Maße Spiritualität und Kriminalität miteinander verwoben sind. Bestimmte Kulte, esoterische Logen und Geheimbünde wurden und werden dafür eingespannt, schwarzmagische Praktiken auszuführen. Wenn dabei auf dem Weg ins Gehirn die Amygdala berührt werde, löst das beim Opfer panische Ängste aus, die sich zur Besessenheit steigern können, da Gehirnfunktionen durch häufige Nutzung intensiviert werden. Gebete oder intensives Wiederholen von Mantras helfen bei der Therapie von Obsessionen, weil darin außerordentliche Kräfte wirken, die einen schützenden Kreis (Mandala) um die Betroffenen errichten. Ein dauerhafter Schutz gegen Übergriffe von Astralwesen ist jedoch nur der Aufstieg in einen höheren Bewusstseinszustand. Es gibt aber auch hilfreiche und heilsame Einwirkungen und Einflüsterungen durch Geistwesen. Ein schlechtes Omen ist es, „von allen guten Geistern verlassen“ zu sein. Häufig ist auch das Karma die tiefere Ursache für den Aufstieg von Kundalini, das Gesetz also, nachdem jede Tat und jeder Gedanke einen Niederschlag findet und irgendwann, in diesem oder in einem nächsten Leben, eine Wirkung auslöst. Eckstein beschreibt an vielen konkreten Beispielen die karmischen Zusammenhänge seelischer Entwicklungsprozesse, die durch die pränatale Spannweite erst verständlich werden. Swamiji berichtete den Schülern gelegentlich von seinen Vorleben, um sein schwieriges Karma zu verdeutlichen, das er in diesem Leben mit großem Einsatz und unendlicher Geduld abzutragen hat. 25 Jahre war er als Sadhu, als Bettelmönch, in Indien lernend und helfend unterwegs, bevor er den Menschen durch seinen Service diente.
Der Kreis schließt sich
Am Ende des Buches folgt ein kurzer Ausblick in die höheren spirituellen Bereiche. Das Verhältnis von Prana und mind wird geklärt, die no-mind experience wird beschrieben. Das Wachbewusstsein entspricht dem grobstofflichen, das Träumen dem feinstofflichen und der traumlose Schlaf dem kausalen Körper. Es gibt auch eine höchste Ebene, Turiya genannt. Alle Beschreibungen dürften aber nicht ontisch, also dinglich verstanden werden, sondern seien Beschreibungsversuche, Gleichnisse, die den verschiedenen Bewusstseinszuständen entsprechen. Wenn Kundalini auf ihrem langen Weg zu Bindu, dem höchsten und letzten Punkt aufgestiegen ist, vollzieht sich die Vereinigung mit Shiva und Samadhi tritt ein, das Einswerden des individuellen mit dem absoluten Bewusstsein, von Atman mit Brahman. Der Kundalini-Prozess ist dann abgeschlossen, um immer wieder von Neuem zu beginnen.
Zum Weiterlesen: Kiu ECKSTEIN: Kundalini und die Lehren eines Meisters, Tredition, Hamburg 2020, (Hardcover), 167 Seiten, EUR 21,99, ISBN 9783 347 012 431 Werke von Dr. Rüdiger Haas:
Hinweis: Dies ist eine gekürzte Version. Die ausführliche Rezension erscheint im September 2020 in AUFGANG 17, „Märchen“. www.aufgangverlag.de |