Neben Lama A. Govinda, C.G. Jung und Mircea Eliade war es vor allem der Germanist und Indologe Heinrich Zimmer, der Anfang des 20. Jahrhunderts dem westlichen Denken die faszinierende Bilder- und Gedankenwelt Indiens nahegebracht und in ihrer archetypischen Bedeutung erschlossen hat. Seine umfassenden gründlichen Kenntnisse östlicher wie westlicher Mythologien, Philosophien und Religionen ermöglichten es ihm darüber hinaus, einen Blick hinter die großen weltgeschichtlichen Ereignisse, die richtungsweisenden dogmatischen Diskussionen und das lineare und zyklische Zeit- und Geschichtsverständnis der Kulturen zu wagen. In Yoga, Buddhismus, Indische Sphären1 (1932) deutete Zimmer zudem hellsichtig die Gefahren der sich anbahnenden zeitgeschichtlichen Katastrophe an, die ihn 1939 zunächst ins Exil nach England und später nach Amerika führte, und wies zugleich auf das notwendige Gegenmittel hin: Die zunehmende Bewusstheit und Individuation des einzelnen, der seine lebensweltliche Situation und Aufgabe im Spiegel der archetypischen Bilder begreift. Mythen, Sinnbilder und Rituale vermögen zwar das gesellschaftliche Leben wirksam zu strukturieren und zu tragen. Der Mensch bleibt dabei aber weitgehend unbewusst und kollektiv. Er wird gelebt, aber er lebt nicht.
Besondere Aufmerksamkeit widmete Zimmer, der persönliche Beziehungen zu Hermann Hesse, Thomas Mann, Carl Burkhardt und C.G. Jung pflegte und von den Forschungen Sir John Woodroffes beeinflusst war2, dem Kundalini-Prozess, dessen Beschreibung und Verständnis für ihn gleichzeitig kosmogonische Bedeutung hat. Dass das Unbewusste wie im Leben der Völker auch im Leben des einzelnen schöpferisch tätig werden und Wege aus Dunkelheit und Chaos zu Neugeburt und Ganzheit weisen kann, macht das Werk Zimmers, der mit Christiane von Hofmannsthal, der einzigen Tochter des Dichters des Chandos-Briefes und des „Jedermann“, verheiratet war, auch im Hinblick auf Geisteswissenschaft, Literaturwissenschaft und Hermeneutik interessant. Mit Hegel, schreibt Zimmer, für den die Romantik lebenslang bedeutsam blieb, sei sich die Moderne erstmals bewusstgeworden, dass der Sinn der mythischen Bilder und Erzählungen der Mensch ist. Ödipus Lösung des Rätsels der Sphinx ist der Schlüssel zur Aufklärung. Mythen und Rituale sprechen vom Menschen, sind Spiegel der in ihm schlummernden Fähigkeiten, und Menschwerdung das eigentliche Projekt der Aufklärung. Den wechselnden Akteuren und Ereignissen auf der Bühne der Geschichte liegen die immer gleichen archetypischen Muster und Strukturen zu Grunde. Dem Werden und Vergehen der Oberfläche entspricht das immer Gleiche Geschehen der Tiefe. Die uns überschaubare, linear erscheinende, fortschrittlich scheinende Wegstrecke der Weltgeschichte ist nur Bruchteil eines Kreises oder einer Aufeinanderfolge von Kreisen, einer sich ins Unendliche weitenden Spirale, die immer wieder den Anfang mit dem Ende verschlingt und dasselbe anders erneut hervorbringt.
Was jenseits von Raum und Zeit diesen schöpferischen Weltprozess ermöglicht und hervorbringt – das Absolute, Brahma, Logos, Licht oder Seyn – bleibt den Sinnen und dem Verstand verborgen. Einzig dem, der den Weg zum Ursprung zurückgeht, wird die Erfahrung zuteil, die zwar erfüllt und beseligt, reinigt und befreit, aber unsagbar bleibt. Das absolute Wissen ist das absolute Nichtwissen.
Gott, Mensch und Welt sind unlösbar ineinander verflochten, im Seyn, Denken, Nous, der Idee geheimnisvoll verbunden, bilden eine Einheit, Dreieinigkeit. Selbstschöpfung und Weltschöpfung fallen daher zusammen. Der Mensch kommt zu sich und erfindet eine Welt. Schöpferische Einbildungskraft, die nicht mit „Phantasie“ verwechselt werden darf, ist der Schlüssel zur Selbstgestaltung, Selbstentwicklung, Wandlung, worin für Zimmer das Wesen des Yoga besteht. Die aus dem zeitlos ewigen Urgrund strömende schöpferische Einbildungskraft ist zeitlich, wirkt und bildet, prägt Zeitliches, Vorläufiges, Vergängliches: Maya, den Traum des Lebens, der unsere alltägliche Wirklichkeit ist. Gleichzeitig erhebt sie den Adepten weit über sich hinaus. Im Tiefsten ahnt und weiß er, dass er es ist, was sich in allen Vorstellungen und Bildern spiegelt. Tat tvam asi. Das bist du. Gleichzeitig weiß er, dass der Gott im Innern kein anderer ist, als er selbst. Ich bin Er. Ich bin ES. Schöpfer und Geschöpf zugleich. Wahrer Mensch und wahrer Gott.
Alles ist und ist nicht. Est et non. Alles ist bedingt, Funktion unserer selbst. Was wir als Welt scheinbar außer uns vorfinden, ist zugleich unsere eigene Schöpfung, unser Urteil oder Vorurteil. Wer diesen Schlüssel zum Geheimnis, zur Magie der Wirklichkeit gefunden hat, erwacht aus der scheinbaren Selbstverständlichkeit des Lebenstraums. Der Weg nach innen ist der Weg nach außen. Zimmer verweist in diesem Zusammenhang auf Hegels „Phänomenologie des Geistes“, Diltheys unvollendetes Ringen um den im Menschen gründenden geheimnisvollen Zusammenhang von Geist und Natur und Nietzsches psychologische Philosophie. Bedeutsame Schnittstellen östlichen und westlichen Forschens und Denkens, an die auch „Dasselbe, das ein anderes ist“ rührt.
Solange wir Menschen sind, bestimmen wir uns und unser Schicksal Augenblick für Augenblick durch unser Tun und verstricken uns dabei lebenslang in die Folgen unseres Handelns. Der rückläufige Weg zur Freiheit, zur Aufhebung der Konditionierung, führt durch die Erfahrung der Elemente Erde, Feuer, Wasser, Luft und Äther. Damit werden Seins- und Erlebensweisen beschrieben, die nicht alltäglich sind, erhebend und beseligend, aber auch dämonisch und deprimierend sein können. Das Tibetanische Totenbuch stellt eine symbolische Landkarte dar, die den Adepten durch diese Zustände führen und zu ihrem Verständnis beitragen soll. Solange das Ich allerdings noch nicht gänzlich geläutert und eingeschmolzen ist, bleibt es vielfältigen Versuchungen ausgesetzt. Erotik, Magie und Macht stellen seine Entschlossenheit zum Verzicht auf alles Weltliche immer wieder in Frage. Hochmut und Stolz bedrohen das Ich mit Inflation. Nur radikaler Verzicht und Demut können den Adepten in diesem Zwischenzustand vor dem Absturz bewahren, nur die vollkommene Hingabe und Überantwortung an das ganz andere, das nicht Ich ist, führt weiter. Auch, wenn es uns schwer fällt zu akzeptieren: Es gibt keine Erlösung für das Ich. Nichts wollen, nichts nicht wollen. Alles annehmen. An nichts hängen. Geschehen lassen. Zuschauer bleiben seiner selbst. Der Glaube, dass ICH nicht wirklich ist. Unbeirrt an die Möglichkeit und Wirklichkeit der großen Befreiung glauben. Der Führung von innen bedingungslos vertrauen.
Heinrich Zimmer, der den Geist indischer Sphären wie nur wenige intuitiv erahnt und ganzheitlich begriffen hat, wusste allerdings auch, dass das bloße Wissen um diese Dinge sich vom Gehen dieses Weges radikal unterscheidet. „Weisheit“ schreibt Zimmer, ist „die Kraft, allem gewachsen zu sein.“ Von diesem, letztlich unabschließbaren, unendlichen Weg weiß er mit Hegel, dass das Wahre das Ganze ist. Die Fülle der archetypischen, in uns schlummernden Möglichkeiten unvorbereitet und unkontrolliert zu wecken, würde den Rahmen des Erträglichen und Erlaubten allerdings sprengen. Alle Kulturen kennen daher Zeiten, in denen vorübergehend die Umkehrung und Aufhebung der Ordnung erlaubt und geboten ist, um anschließend, vom Drang und der Sehnsucht des Ungelebten und Verbotenen entlastet, wieder in die Grenzen des Erlaubten zurückzukehren. Radikale Individuation, der Gang zu den Quellen, die Rückkehr in den Ursprung, scheint es, bleibt wenigen Berufenen vorbehalten, Ausnahme, Heldentat und Heldenreise. Mythen und Rituale verbinden die anderen, vielen symbolisch immer wieder mit dem Urgrund und sorgen dafür, dass das kulturell begrenzte und regulierte, konventionelle Leben nicht gänzlich austrocknet und erstarrt.
Der Nationalsozialismus hat viele dieser archetypischen archaischen Sehnsüchte, Bedürfnisse, Wahrheiten und Symbole angesprochen, ritualisiert, instrumentalisiert und ideologisch missbraucht. Es wäre leichtsinnig und naiv, ihre faszinierende, überwältigende Kraft zu unterschätzen und zu glauben, Nachgeborene wären vor einer ähnlichen Katastrophe geschützt. Nur die höchst mögliche gesellschaftliche Bewusstheit über diese Grund-Tatsachen des Lebens kann vor erneutem blindem hineingerissen Werden in gesellschaftliche Fehlentwicklungen bewahren. Das Werk Heinrich Zimmers bleibt daher bedeutsam und sollte – neben den Werken Lama A. Govindas, C.G. Jungs und Mircea Eliades – Eingang in Lehrpläne und Schulbücher finden.
1 Heinrich Zimmer: Yoga. Buddhismus. Indische Sphären. Neuausgabe Essen 2018
2 Sir John Woodroffe: u.a. Tantra of the great liberation (1913); Shakti and Shakta (1918); The serpent power (1919)