Es macht Mut und gibt Hoffnung, dass immer mehr Bücher erscheinen, die die Rolle der Menschheit im globalen Gefüge der Biosphäre kritisch hinterfragen. Auch in diesem Buch wird sie wieder angemahnt, die Erkenntnis: Wir Menschen haben nicht das Recht, uns über andere Lebensformen zu stellen – wir sind nur eine Spezies von vielen, die alle das gleiche Lebensrecht haben. Die Biologieprofessorin Robin Wall Kimmerer nennt das die „Demokratie der Lebewesen“. Es geht in ihrem Buch aber nicht nur um diese Haltung per se, sondern letztlich um die Frage: Wie kann dieses Lebensrecht für alle Arten umgesetzt werden, wie können die Zerstörung der Biosphäre, der Artenschwund und der Raubbau an den Lebensräumen der Natur endlich beendet werden? Die Pflanzenökologin, die an der State University of New York / College für Umweltwissenschaften und Forstwirtschaft in Syracuse lehrt und forscht, hat darauf eine klare Antwort: die Verbindung von Naturwissenschaft und traditionellem spirituellem Wissen der indigenen Völker Nordamerikas. Als Essaysammlung, die ein Gemisch ist aus autobiografischen Erzählungen, umweltpolitischen und philosophischen Episoden sowie leichtverständlich aufbereiteten, kurzweiligen „Biologiestunden“ – alles, wie der Titel schon andeutet, elegant miteinander verflochten – ist Geflochtenes Süßgras ein leidenschaftlicher Appell, unseren Respekt und unsere Dankbarkeit gegenüber der Natur wiederzufinden und zugleich die Erkenntnisse der modernen Umweltwissenschaften zu vertiefen, ernst zu nehmen und anzuwenden.
Dass beides einander nicht ausschließt, sondern im Gegenteil zusammengehört, wird an vielen Beispielen überzeugend dargelegt. So wurde in einer Doktorarbeit an Kimmerers Institut untersucht, unter welchen Bedingungen die im Buchtitel genannte Süßgrasart, eine Pflanze, die in der untersuchten Region traditionell auf vielerlei Weise genutzt wird, am besten wächst und gedeiht: Wenn man sie vollständig erntet; wenn man nichts entnimmt und sie unbehelligt wachsen lässt; oder wenn sie nach den Methoden der Indigenen beerntet wird? Das Ergebnis hat alle (nicht-indigenen) Kolleginnen und Kollegen an Kimmerers Lehrstuhl überrascht: Es ist nicht etwa das In-Ruhe-Lassen des Grases, das den besten Biomassezuwachs bewirkt und es am vitalsten gedeihen lässt – sondern die moderate, maßvolle Ernte. Kimmerer nennt diese indigene Methode die „Ehrenhafte Ernte“, und einer ihrer Grundsätze lautet: „Nimm nie mehr als die Hälfte.“ In der Ehrenhaften Ernte wird aber nicht nur Respekt und Dankbarkeit vor den mehr-als-menschlichen Lebewesen praktiziert. Es steckt auch rationales Wissen darin: Pflanzen, von denen viele Arten Nahrung für Tiere sind, haben sich mit ihrem Stoffwechsel und ihrem Wuchsverhalten darauf eingestellt, immer wieder dezimiert zu werden – aber eben niemals vollständig. Die Biosphäre auf unserem Planeten wäre nicht schon dreieinhalb Milliarden Jahre alt und von so reicher Vielfalt, wenn dieses Prinzip nicht funktionieren würde.
Als Naturwissenschaftlerin, die dieses Handwerk genauso gründlich erlernt hat wie die Praxis ihrer eigenen indigenen Wurzeln, hat Robin Wall Kimmerer diese Zusammenhänge zutiefst verstanden und lebt und verkörpert das auch wie kaum jemand anderer: Naturwissenschaft und Spiritualität, wissenschaftliches Denken und spirituelles Fühlen sind keine Gegensätze, sondern nur zwei Seiten unserer Existenz; zwei Erkenntniswege, die beide gebraucht werden und einander ergänzen, wie sie an vielen Stellen im Buch frappierend darlegt. „Wir sehen die Welt vollständiger, wenn wir beide nutzen.“ – „Staunend und demütig wissenschaftlich zu arbeiten ist ein mächtiger Akt der Reziprozität mit der Welt außerhalb der menschlichen Spezies. (…) Über die Naturwissenschaft lässt sich eine intime Beziehung, lässt sich Respekt zu anderen Arten aufbauen – wie es sonst nur durch die Beobachtungen von Hütern traditionellen Wissens möglich ist. So kann Seelenverwandtschaft entstehen.“ – „Wissenschaft heißt, durch rationales Fragen die Welt zu entdecken. Diese Art der Forschung bringt den Fragesteller in eine einzigartige Nähe zur Natur. (…) Das Leben eines uns fremden anderen Wesens oder Systems verstehen zu wollen, erfüllt uns oft mit Demut. Für viele Wissenschaftler ist es eine zutiefst spirituelle Erfahrung.“
Nach solchen Passagen wundert man sich nicht mehr, dass Kimmerer neben ihrer Lehrstuhltätigkeit auch Mitbegründerin und Direktorin des Center for Native Peoples and the Environment ist. An diesem Institut wird genau diese Verbindung aus indigenem Wissen und den modernen Umweltwissenschaften erforscht, gelehrt und in die Praxis umgesetzt. Das Modell sollte dringend Schule machen und internationale Nachahmer finden.
Wer nun fürchtet, sich auf den knapp 450 Seiten nur durch trockene Wissenschaftstexte oder ermüdende politische Statements quälen zu müssen, der oder die sei unbesorgt: Das Buch ist auch ein ästhetischer Genuss und eine wahre Lesewonne. Kimmerers Naturschilderungen sind so poetisch und von solch zärtlicher Naturliebe erfüllt, dass es einem tief ins Herz geht. Die wissenschaftlichen Erläuterungen sind, wie schon erwähnt, so gut verständlich und leicht lesbar geschrieben, dass es (auch für lesende Biologinnen, die immer noch dazulernen) eine wahre Freude ist, sich ökologisches Wissen praktisch en passant anzueignen.
Interessanterweise und in einem wunderbaren Synergieeffekt bestätigte übrigens der Welt-Biodiversitätsrat (IPBES) justament vergangenen Sommer in seinem Statusbericht, dass die traditionellen Landbaumethoden indigener Gemeinschaften geeignet sind, die natürlichen Ressourcen der Erde zu schützen und langfristig zu bewahren, und rief deshalb explizit dazu auf, die Rechte indigener Gemeinschaften besser zu schützen. Aus humanitären Gründen ist das ohnehin das Gebot der Stunde, aber nun haben wir es sozusagen amtlich, dass mit der Unterdrückung und Entrechtung der indigenen Völker viel mehr auf dem Spiel steht: nämlich nichts weniger als die Zukunft der gesamten Biosphäre. Unsere Landwirtschaftsmethoden gehören gründlich reformiert. Worauf warten wir also noch?
Robin Wall Kimmerer: Geflochtenes Süßgras. Die Weisheit der Pflanzen. Aus dem Amerikanischen von Elsbeth Ranke, Aufbau Verlag 2021, EUR 26