Neben „Der Mensch und seine Symbole“ dürfte „Erinnerungen, Träume, Gedanken“ das am weitesten verbreitete Buch über C.G. Jung und seine analytische Psychologie sein. Wie langwierig, schwierig und umstritten die Entstehung dieses Buches und der Prozess der Veröffentlichung war, kann man jetzt in dem sehr ausführlichen historischen Kommentar von Elena Fischli zu den von Aniela Jaffé, der Schülerin und Mitarbeiterin C.G. Jungs, 2021 herausgegebenen ergänzenden „Streiflichter zu Leben und Denken C.G. Jungs“ nachlesen.
Finanzielle Interessen von Verlagen und Herausgebern, rechtliche Fragen zur Unterscheidung von „wissenschaftlichem Werk“ und „sonstigen Schriften“, Biographie und Autobiographie, Autorschaft und Mitautorschaft, aber auch persönliche und familiäre Rücksichten prägen die jahrzehntelange Geschichte dieses Buches, das überarbeitete Gesprächsnotizen Aniela Jaffés beinhaltet, die keinen Eingang in „Erinnerungen, Träume, Gedanken“ gefunden haben.
Auf 218 Seiten präsentiert das Buch die mit einführenden Hinweisen der Herausgeberin zum biografischen Kontext und Werk versehenen Gesprächsnacherzählungen. Der historische Kommentar schließt sich mit 192 Seiten an. Besonders ansprechend und erhellend dürfte das Buch daher für Leser sein, die mit dem Werk C.G. Jungs vertraut sind und die auch die Lebensgeschichte einigermaßen kennen, die davon untrennbar ist. Inzwischen weitgehend umgangssprachliche Begriffe wie „Komplexe“, „Schatten“, „Anima“ und „alter Weiser“ stehen als Stufen des Individuationsprozesses nicht nur im Mittelpunkt der analytischen Psychologie, sondern sind ebenso mit der Lebensgeschichte C.G. Jungs eng verknüpft.
Gestreift werden in diesen Streiflichtern folglich alle wichtigen Lebensstationen C.G. Jungs, von Vorfahren, Kindheit und Elternhaus über frühe Interessen, Studium und Ausbildung, Begegnungen und Einflüsse bis Nationalsozialismus, Alter und Tod. Jungs, an Kant orientierte erkenntnistheoretische Einstellung findet ebenso Ausdruck wie seine psychologischen und theologischen Einstellungen, seine Ansichten zur Natur- und Geisteswissenschaft, seine spiritistischen Interessen und seine Auffassung der Alchemie, östlichen Spiritualität und Mystik. Immer wieder wird spürbar, wie gewagt damals C.G. Jungs Gratwanderung zwischen Psychologie, Erkenntnistheorie, Naturwissenschaft, Philosophie und Theologie war, wie vorsichtig er sich bemühte, mögliche Erfahrungen und Bilder von ontologischen Aussagen zu unterscheiden.
Leben als Aufgabe der Entwicklung, Verwirklichung schicksalhafter Bestimmung, Bemühung um Vollständigkeit und Ganzheit: Nur wenige haben dieses Thema und die damit verbundenen Erfahrungen ebenso nachdrücklich erforscht wie er. Dass Jung auch ein Seminar zum Kundalini-Yoga gehalten hat, dessen Nachschrift inzwischen auch in deutscher Sprache vorliegt, verwundert daher nicht. Auch Nietzsche und Goethes Faust haben ihn immer wieder tief beschäftigt. Jung hat wie wenige „mit seinem Blut“ geschrieben – Herzblut. Aber auch seine Einstellung zum Nationalsozialismus kommt zur Sprache, wobei die Jüdin Aniela Jaffé auch Versäumnisse benennt. Jungs Verdienste aber, der in der immer weiteren, tieferen oder höheren Bewusstwerdung des Menschen die eigentliche Lebensaufgabe sah – das Selbstbewusstsein oder die Menschwerdung Gottes – überwiegen den Schatten.
Ob in der indischen Philosophie und im Buddhismus, im Christentum, Islam oder Judentum: immer verweist Jung auf die Gegensätzlichkeit, Widersprüchlichkeit und Dynamik der Gottesvorstellungen oder Vorstellungen des Absoluten und die mit diesem gewaltigen, explosiven Potential verbundene Aufgabe der Entwicklung und Wandlung. Dass dieser Prozess nicht bloß verständlich, intellektuell vollzogen werden kann, sondern den ganzen Menschen fordert, der not-wendig schuldig werden muss, steht für Jung außer Frage: „Man wird erst dann sich selbst, wenn man bereit ist, sich seiner Haut in der Wirklichkeit zu wehren…Wären die Menschen bewusster, befände die Welt sich in einem anderen Zustand als dem gegenwärtigen.“ (S.154).
Aniela Jaffé: Streiflichter zu Leben und Denken C.G. Jungs nach Gesprächen mit C.G. Jung. Daimon Verlag, 2021.