Rezension von Jan Kerkmann (Freiburg i. Brsg.) zu Benedikt Maria Trappen: Ach, dass ich doch erst Befreiter wäre. Friedrich Nietzsche. Eine Lebensgeschichte in Briefen, München 2020
Du findest diese Rezension auch in unserem Printmagazin Yoga Aktuell Nr. 128.
Rezension
Der Philosoph und Autor Benedikt Maria Trappen hat sich seit Jahrzehnten intensiv mit dem Werk Friedrich Nietzsches auseinandergesetzt. Nun liegen zwei bemerkenswerte Ergebnisse dieses anhaltenden Zwiegespräches im Münchner Pfeil Verlag vor. Zum einen hat Benedikt Trappen im Jahr 2020 eine Auswahl von Briefsentenzen Nietzsches herausgegeben, die den Titel Ach, dass ich doch erst Befreiter wäre. Friedrich Nietzsche. Eine Lebensgeschichte in Briefen trägt. Es ist diese bis auf ein gründliches Nietzsche-Studium in den Jahren 1987–1989 zurückgehende Auswahl, die im Mittelpunkt der vorliegenden Rezension stehen soll. Zum anderen spiegelt sich in dem ebenfalls unlängst erschienenen Werk Wahrheit, Ewige Wiederkehr, Wille zur Macht. Grundthemen Nietzsches in der Auslegung von Karl Jaspers eindrucksvoll wider, dass dem Verf. an einer eigenständigen Interpretation der hervorstechenden Theoreme Nietzsches gelegen ist.
Im Kontrast dazu, rückt Benedikt Trappen in der Briefauswahl die inneren Widerfahrnisse, das zur mystischen Weltvereinigung strebende Bewusstsein und die schöpferische Entwicklung Nietzsches in den Vordergrund. Dabei wird die Leserin zu einer tätigen Mitempfindung der Symbole, Topoi und Assoziationen aufgefordert, die sich der Bändigung in festgefügte Systemdoktrinen verweigern. Es ist nicht der Apologet eines kraftstrotzenden Willens zur Macht, der raunende Künder der ewigen Wiederkehr oder der düstere Prophet eines epochalen Nihilismus, der in Trappens Auswahl zu Wort kommt. Stattdessen erscheint Nietzsche als ein zutiefst verletzlicher Denker, der sich in seiner zunehmenden Einsamkeit der Bedeutsamkeit seiner Lebensaufgabe vergewissert.
Obgleich sich in den einzelnen Lebensphasen singuläre Schwerpunkte eingrenzen lassen, werden in der ganzheitlichen Übersicht der Briefe Motive und Naturerfahrungen erkennbar, die sich in ihrer rätselhaften Schönheit wie ein Ariadnefaden durch die Auswahl ziehen. Diese Leitthemen weisen Nietzsche als einen im sensitiven Einklang mit den Elementen philosophierenden Denker aus, der im Periodengang der Jahreszeiten von den Stimmungen der Einkehr, des Abschieds, der Melancholie, der Vergänglichkeit und der Milde begleitet wird.
Trappen möchte Nietzsche nicht entzaubern und es ist ebenfalls nicht sein Ziel, einen makellosen, der Identifikationsbildung dienlichen Denker zu präsentieren. Damit stimmt überein, dass Trappen zwar ein prägnantes Vorwort und eine erläuternde Vorbemerkung vorangestellt hat. Innerhalb der Briefauswahl greift er jedoch nicht kommentierend ein. Auch auf einen philologischen Apparat oder ein umfangreiches Nachwort wurde verzichtet. Einzig eine Liste weiterführender Literatur und eine Chronik zu Nietzsches biographischen Stationen hat Trappen seinem neuen Werk beigegeben. Für die Auswahl wurde die achtbändige Kritische Studien-Ausgabe der Briefe verwendet. Die Fragmente aus Nietzsches Briefen hat der Verf. in Klammern mit den entsprechenden Seitenverweisen versehen, sodass der interessierte Rezipient den Gesamtzusammenhang der Briefe in der Kritischen Studien-Ausgabe recherchieren kann.
Der Architektonik der Kritischen Studienausgabe der Briefe folgend, hat der Verf. die selektierten Passagen in unterschiedliche Zeitabschnitte gegliedert. Die einzelnen Stadien seien an diesem Ort benannt, da sich im Verlauf der Jahre eine markante Veränderung im Tonfall und Selbstbewusstsein Nietzsches bezeugt. Aus dem Band Nr. 1 hat Trappen erhellende Briefaufzeichnungen der Kindheit und der Schuljahre destilliert, die den Zeitraum von Juni 1850 – September 1864 umfassen. Der zweite Band beinhaltet Briefe, die von September 1864 – April 1869 reichen und neben der Annäherung an die philosophische Bestimmung die Berufung auf die Basler Professur beleuchten.
Im dritten Band haben die Briefe aus der Phase von April 1869 – Mai 1872 Eingang gefunden, die sich um die Konzeption des 1872 publizierten Erstlingswerkes Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik gruppieren. Der vierte Band berücksichtigt die brieflichen Zeugnisse aus dem Umkreis der Unzeitgemäßen Betrachtungen (Mai 1872 – Dezember 1874). Im Rückgriff auf den fünften Band ergänzt Trappen wichtige Äußerungen aus jenem einschneidenden Stadium (Januar 1875 – Dezember 1879), dessen geistiges Gravitationszentrum durch die Aphorismensammlung Menschliches, Allzumenschliches (1878) bezeichnet wird. Im sechsten Band sind jene Briefe enthalten, in denen der auf sein vierzigstes Lebensjahr zustrebende Denker über die Werkentstehung der Fröhlichen Wissenschaft (1882) und Also sprach Zarathustra (1883/84) reflektiert (Januar 1880 – Dezember 1884).
Als Briefschreiber war Nietzsche vom Januar 1885 – Dezember 1886 (7. Band) enorm produktiv. In dieser biographischen Periode gestaltet er die moralkritische Schrift Jenseits von Gut und Böse (1886) aus. Schließlich ist es der achte Band, der mit den Briefen vom Januar 1887 – Januar 1889 auch die berühmten „Wahnzettel“ der Turiner Zeit dokumentiert. In diese letzte Schaffensphase fallen die Schriften Der Antichrist und Ecce homo (1888).
Beim Einstieg in die Lektüre der Briefauswahl wird Trappens Beschränkungsstrategie einer weitreichenden Dekontextualisierung – so werden weder der Adressat noch das konkrete Datum der jeweiligen Briefe angegeben – zunächst unorthodox anmuten. Gleichwohl liegt es in der Konsequenz der Interpretationsprogrammatik Trappens, dass er signifikante Passagen der Briefe für sich selbst sprechen lässt. Im Vorwort entfaltet der Verf. einen psychoanalytischen Deutungsansatz, der fruchtbringend mit Lehren der indischen Philosophie angereichert wird:
„Die dem schöpferischen Prozess zu Grunde liegende Kraft entspricht dem, was in der indischen Philosophie Kundalini-Shakti genannt wird und letztlich mit der weltschöpferischen Kraft identisch ist. Dass Nietzsche sich schließlich als Schöpfer der Welt begriff, ist daher ebenso folgerichtig wie seine Identifizierung mit ‚dem Gekreuzigten‘, ‚Dionysos‘ und eigentlich jedem – nicht nur weltgeschichtlich bedeutsamen – Ich. In der Tiefe versöhnen sich die Gegensätze und offenbaren eine Fülle, die der Oberfläche neuen Sinn verleiht.“ (6)
Es gelingt Trappen durch die Betonung einer archetypischen Lesart, die mit den wirkmächtigen Nietzsche-Auslegungen Heideggers und Löwiths eingeläutete Fokussierung auf systematische oder metaphysische Lehrinhalte Nietzsches überzeugend zu konterkarieren. Stattdessen verhilft der Verf. der in Lou Andrea-Salomés meisterhafter Studie Friedrich Nietzsche in seinen Werken (1894) vorgetragenen und heutzutage nahezu vergessenen Interpretationsrichtung wieder zu ihrem Recht, Nietzsche als einen Denker der zeitprägenden Sinnbilder, des überpersonalen Symbolbewusstseins und der religiösen (Selbst-)Erfahrung auszuzeichnen. Dergestalt kann der Verf. einer rein subjektbezogenen Bewertung der späten Megalomanie Nietzsches ebenso entgegentreten wie der verkürzenden Pathologisierung dieses Denkers.
Nicht zuletzt bekundet sich ein gewichtiger Vorzug der an C.G. Jung geschulten Analyseperspektive darin, dass die in den späten Briefen Nietzsches zur Suada gerinnende Schicksalspathetik nicht kritiklos affirmiert werden muss. Erst auf diese Weise kann Nietzsche als einer jener seltenen Denker gewürdigt werden, in deren Existenzform überindividuelle, seelische Konflikte zum Ausdruck kommen. Diese lassen sich nach Trappen nicht auf ihren seismographisch-zeitdiagnostischen Charakter reduzieren. Vielmehr appelliert die Nietzsche-Lektüre an jeden Einzelnen, die widerspruchsreiche Bewegung der Vervollkommnung selbst zu vollziehen. An dieser monumentalen Herausforderung sei Nietzsche – daran lässt Trappen keinen Zweifel – letztlich gescheitert:
„Nietzsches Scheitern an dieser ungeheuren, gleichwohl unumgänglichen und notwendigen Aufgabe ist ein Vermächtnis, das Mahnung und Weisung zugleich ist, den Weg selbst zu gehen und dabei ‚alles besser‘ zu machen: sein Leben sowohl als sein Denken.“ (6f.)
Trappen führt zentrale Philosopheme Feuerbachs und Hegels zusammen, um den genuinen Erfüllungssinn des von Nietzsche kompromisslos und paradigmatisch vorgelebten Erlösungsgeschehens zu verorten. Aus Feuerbachs Wesensbestimmung des Christentums entlehnt Trappen, dass die religiös-soziokulturellen Ordnungsprinzipien und ritualisierten Gestalten als höchste Ausdrucksformen des schöpferischen Selbst verstanden und dementsprechend in die Lebenspraxis übersetzt werden müssen. Obzwar Nietzsche die aufklärende Rückführungsbewegung projizierter Transzendenzvorstellungen auf die menschliche Einbildungskraft in einer grundstürzenden Folgerichtigkeit leistete, vermochte er die entschlüsselten Bildwelten des Übergreifenden schließlich nicht mehr von seinem eigenen Erfahrungshorizont zu unterscheiden. Sein endliches Ich zuletzt selbst zum Gott erhebend, musste Nietzsche den von Feuerbach verfochtenen Anspruch der vollkommenen Menschwerdung verfehlen. Aus Hegels Philosophie entnimmt Trappen den – mit Nietzsches Schicksalsergebenheit des amor fati bestens vereinbaren – Gedanken, dass alle scheinbaren Zufälle aufzuheben sind in ein Gefüge der Notwendigkeit, worin sich die individuelle Existenz mit dem Daseinsverlauf der gesamten Welt zusammenschließt. Vor diesem Hintergrund kann die wesentliche Frage artikuliert werden, welche Richtzeichen Nietzsche auf dem Weg hinterlassen hat, zu einem wahrhaft Befreiten zu reifen. In seiner Vorbemerkung äußert sich Trappen dazu in einer längeren Schlüsselstelle:
„Vorwegnehmend kann gesagt werden, dass ‚Leben‘ sich als Entwicklung, Verwirklichung anfänglicher spontaner Äußerungen archetypischen Charakters einer vom bewussten Ich mehr oder weniger deutlich unterschiedenen und unterscheidbaren Macht erweist, die sich mit Notwendigkeit vollzieht und die Hervorbringung einer wirklich empfundenen lebendigen Einheit des Selbst zum Ziel hat. Das Leben Nietzsches erscheint so als Paradigma, Veranschaulichung wesentlicher romantischer Gedanken, deren unzeitgemäße, vorläufige, weltschöpferische Kraft darin zu später Erfüllung findet. Nietzsches Rede vom ‚Tod Gottes‘ allein kann daher Anlass geben, die erschütternde Zerrissenheit dieses Lebens mit Hegels Phänomenologie des Geistes zusammenzusehen.“ (9f.)
Um die unverfügbare Tiefendimension einer gleichsam unbewusst durch das Ich hindurchwirkenden Macht zu profilieren, beruft sich der Verf. in der Vorbemerkung auf eine maßgebliche Aussage aus einem Nietzsche-Brief an Georg Brandes (08.01.1888). Diese kann nicht nur als beeindruckend tiefschürfende Selbsterkenntnis erfasst werden, sondern bestätigt auch die archetypische und entwicklungsgeschichtliche Hermeneutik Trappens:
„Daß es sich hier um die lange Logik einer ganz bestimmten philosophischen Sensibilität handelt und nicht um ein Durcheinander von hundert beliebigen Paradoxien und Heterodoxien, ich glaube, davon ist auch meinen wohlwollendsten Lesern nichts aufgegangen.“ (11; vgl. BVN-1888, 974)
Indem er aus dieser Sentenz das Deutungsprinzip einer inneren Entwicklungslogik gewinnt, kann der Verf. einer Lektüreabsicht entgegenwirken, die Nietzsche im postmodernistischen Gestus auf eine perspektivische Relativierung scheinbar unerschütterlicher Wahrheiten verpflichtet. Zugleich kann die Kritik abgewehrt werden, dass sich Nietzsches Denken in unauflösliche Widersprüche verstrickt habe und er daher hinter streng systematischen Philosophen wie Spinoza, Leibniz oder Schopenhauer zurückstehe.
Insgesamt ist zu resümieren, dass Benedikt Trappen eine einzigartige Briefauswahl vorgelegt hat. Der Verf. lädt die Leserinnen und Leser nachdrücklich dazu ein, selbst zum Gesprächspartner Nietzsches zu werden, um einer brieflichen Mitteilung des Philosophen beipflichten zu können: „Es ist sehr artig und sehr klug, seinem Leser zu überlassen, die letzte Quintessenz unsrer Weisheit selber auszusprechen.“ (90; vgl. NF-1882,1[45], 244f.)