Im Juli dieses Jahres habe ich in Griechenland einen Yogakurs gegeben. Wunderschön! Entspannend und leicht. Zum Yogaunterricht habe ich natürlich auch immer wieder über die Yogaphilosophie gesprochen, genauer gesagt über das Yoga-Sutra des Patanjali. Ich liebe es so sehr, weil es für mich die Funktionsweise unseres Geistes auf so anschauliche Weise vermittelt.
Zum Beispiel beschreibt Patanjali die Kleshas, jene Kräfte, die dafür sorgen, dass unser Geist nicht zur Ruhe kommt. Genauer gesagt handelt es sich bei den Kleshas um kosmische Urkräfte, die jedem Menschen innewohnen und die durch uns hindurchwirken können. Sie gehören von Beginn an zum menschlichen Dasein und sind tief in uns verankert. Wenn auch unbewusst, so drängen sie unsere Wahrnehmung und unser Verhalten immer wieder in eine Richtung, aus der Leid und Unzufriedenheit entstehen. Es muss nicht unbedingt sein, dass ein Mensch die Wirkung dieser Kräfte ganz bewusst erlebt. Manchmal werden die Folgen der Kleshas von den Mitmenschen bewusster wahrgenommen, wenn sie sehr stark wirken, als von dem Betroffenen selbst. Sie werden folgendermaßen aufgeführt:
Avidya = falsches Verstehen, Verwechslung
Asmita = falsches Verständnis der eigenen Person
Raga = drängendes Verlangen
Dvesha = unbegründete Abneigungen
Abhinivesha = Angst
Manchmal aber können wir selbst erkennen, wie die Kräfte durch uns hindurch wirken. So ging es mir zumindest bei diesem besagten Griechenlandaufenthalt. Nachdem ich erst morgens einen kurzen Vortrag über die Kleshas gehalten hatte, stellte mich das Leben direkt auf eine Probe und wollte mir zeigen, dass sie auch durch mich durchwirken.
Dies passierte an einem Donnerstag an einem kleinen Strand, der ganz in der Nähe des Retreat-Centers lag. An diesen Strand ging ich jeden Tag und es gab dort einen einzigen Baum, der Schatten spendete. Allerdings war er immer besetzt. Und in all den Tagen hatte ich mir gewünscht, dass auch ich einmal ganz entspannt in seinem Schatten liegen würde.
Als ich an diesem Donnerstag zum Strand kam, war kein einziger Mensch dort. Und zu meiner großen Freude auch nicht unter dem Baum. Ich machte es mir dort gleich bequem und genoss diesen natürlichen Schattenplatz. Auch nach einer Stunde noch war ich alleine und fühlte mich rundum wohl.
Allerdings sollte dieses Gefühl nicht lange anhalten. Ich bekam Hunger! Wie jeden Tag, so wollte ich auch an diesem in der naheliegenden Taverne zu Mittag essen. Aber was wäre dann mit „meinem“ Baum? Wäre das lauschige Plätzchen dort nach meiner Rückkehr immer noch frei? Ich konnte fast körperlich spüren, wie sich mein Geist an diesem Baum festbiss und ihn nicht loslassen wollte. Obwohl kein Mensch weit und breit zu sehen war, hatte ich plötzlich das Gefühl, diesen Baum auf irgendeine Art und Weise als „meinen“ markieren zu müssen, damit ich dort in seinem Schatten den Rest des Tages verbringen konnte.
Sollte ich etwa – die es hasste, wenn Gäste sich Liegen mit Handtüchern freihielten oder sich im Retreat immer die besten Plätze in der Nähe des Gurus sicherten – genauso handeln und mein Handtuch unter den Baum legen? Ich musste über mich selbst lachen, weil ich mit ansehen konnte, wie mein Geist plötzlich immer stärker von Raga besetzt wurde.
Und er wollte partout nicht loslassen. Der Kampf dauerte eine gute halbe Stunde, und ich saß da und schaute meinem eigenen Geist und der darin wirkenden Gier zu.
Währenddessen nahm mein Hunger zu. Und da passierte das, was ich nie für möglich gehalten hätte! Ich breitete mein Handtuch aus, legte es unter den Baum, stellte einen Sonnenschirm davor, wodurch man nicht sehen konnte, ob jemand unter dem Baum lag oder nicht und ging zur Taverne.
Mein Gott, war ich mir peinlich!
Als ich vom Essen zurückkam – was mir natürlich dieses Mal nicht wirklich gut geschmeckt hatte, weil ein Teil meiner Aufmerksamkeit bei meinem abstrusen Verhalten war, hatte es sich jemand auf meinem Handtuch bequem gemacht. Der Hund des Retreat-Centers, der mich jeden Tag am Strand besucht hatte. Aber nicht nur das. Er hatte auch noch das Stück Kuchen verputzt, das ich mir extra vom Frühstücksbuffet des Hotels als Nachtisch mitgenommen hatte. Vor lauter Sorge um meinen Schattenplatz hatte ich den Kuchen vollkommen vergessen und neben meinem Handtuch auf der Tasche liegen lassen.
Nur zu deutlich hatte ich an diesem Tag am eigenen Leibe die Wirkkraft von Raga kennengelernt. Und dieses Mal hatte ich mich nicht fremd geschämt, sondern war mir selbst über die Maßen peinlich gewesen!
Als ich am nächsten Tag wieder an den Strand kam, war der Baum bereits besetzt. Er hatte seinen Dienst an mich ja auch bereits getan.