Dass uns, also dir und mir, etwas ähnlich sieht, ist dem Werk von Indra geschuldet. Wer ist Indra? Indra ist ein Gott aus der vedischen Mythologie. Über seinen Palast, der auf dem Weltenberge Meru erbaut ist, hat er ein riesiges, unendlich großes Netz gespannt. Der Berg Meru gilt im indischen Mythos als Axis Mundi, als die vollkommen in sich ruhende Weltenachse des Einen, welche das gesamte Schöpfungsgewebe im Gleichgewicht hält. Die Vision des Yoga ist es, mit der Axis Mundi zu verschmelzen.
Doch diesen „Einen“ im Anderen zu erahnen, ist für viele Menschen nicht leicht in diesen Zeiten. Hat doch die „Diktatur der Zwei“, der große Diktator des Zweifels, über seine Herrschaft des Trennens und Spaltens den Leitton in Indras Kristallperlenspiel übernommen und unser Weltengewebe auf den überaus harten Tonus der Ich-Besessenheit eingestimmt.
Das Besondere an Indras Netzgewebe sind jedoch die unendlich vielen, prismatisch geschliffenen Edelsteine, die er kunstvoll in das Netz eingearbeitet hat. Jeder der die unzähligen Netzmaschen verbindenden Knoten ist mit einem geheimnisvoll funkelnden Kristall versehen, der bei genauerer Betrachtung alle anderen Kristalle in sich widerspiegelt. Aber nicht nur das: Auch in all den gespiegelten Kristallen spiegeln sich die unendlich vielen anderen Kristalle wider. Man kann sich das wie ein leuchtendes Sternenzelt am nächtlichen Himmelsfirmament vorstellen. Wobei in jedem Stern alle anderen Sterne widerscheinen. Dieses Spiegelnetz wird in den vedischen Schriften als „Indras Netz“ bezeichnet, welches als feines, unsichtbares Gewebe die gesamte Schöpfung mit allen ihren groben und feinen Dimensionen durchwirkt. Jeder Kristall darin ist ein aus dem Absoluten, aus der Fülle des Einen entsprungener Gottesfunke. Und weil wir als ein solches Funkenwesen mit allen anderen Wesen und Objekten durch dieses Netz verknüpft sind, sehen wir, wohin wir auch blicken, immer nur unseren eigenen Widerschein, der wiederum der Widerschein des Einen ist. Wir sehen uns in allem, und alles in uns. Und so erzeugt jede noch so kleine unserer Handlungen, jeder Gedanke, jedes Gefühl, ob gut oder schlecht, ob freudvoll oder leidvoll, seine wirkende Schwingung im gesamten Gewebe.
Nun können wir erspüren, warum uns alles in der Welt so ähnlich, so vertraut ist, wenn wir ihm nur mit offenem, liebendem Herzen begegnen. Das „Ähn-liche“ erlaubt uns nämlich, den „Ur-ähnlichen“, den „Ur-ahn“ in allem zu „er-ahnen“, der als erster unserer „Ahnen“ der „Ehne“, sprich, der „Eine“ ist – der Eine in dir und mir, der im Yoga als Brahman oder Atman bezeichnet wird.
Doch diesen „Einen“ im Anderen zu erahnen, ist für viele Menschen nicht leicht in diesen Zeiten. Hat doch die „Diktatur der Zwei“, der große Diktator des Zweifels, über seine Herrschaft des Trennens und Spaltens den Leitton in Indras Kristallperlenspiel übernommen und unser Weltengewebe auf den überaus harten Tonus der Ich-Besessenheit eingestimmt. So ist die natürliche Fähigkeit, uns im Gewebe „ein-ander“ in Verbundenheit zu spüren und zu erkennen ob der allgemeinen grobschlächtigen Orchestertonalität leise flöten gegangen. Spiegel dienen in unseren Zeiten nur noch der Schmeichelung des Ahamkara, des Ich-Sinns in uns, der darin seine narzistische Maske besonders vorteilhaft zurechtzurücken weiß. Sie dienen nur noch wenigen als Tor zu höherer, intuitiver Erkenntnis. „Indras Netz“ des „Erkenne dich selbst“ ist somit aus der Verankerung des Seins gerissen und hauptsächlich zu einem Objekt der Selbstdarstellung geworden. Diesem Objekt haben wir Menschen vor nicht allzu langer Zeit den lautmalerisch verblüffend ähnlichen Namen des „Intra net“ bzw. „Inter net“ gegeben. Das „Inter net“ ist eine virtuell verkörperte Widerspiegelung der Architektur von Indras heiligem Prinzip des spiegelnden „Mit-ein-ander“. Doch wie alles, das der Mensch aus dem Sein hat stürzen lassen, ist das „Netz“ zum großen Teil zu einem Objekt des Nutzens und der Begierde geworden und längst der Zwietracht der Dualität erlegen.
„Mit-ein-ander“ meint das „Eine im Anderen“ und möchte sagen: Erkenne das EINE Lebewesen Gottes im Anderen. Und erkenne dich dadurch selbst. Sich in seinem ganzen Wesen zu erkennen, sich im Spiegelbilde des Anderen zu einem Ganzen zusammenzufügen, im Lichte wie im Schatten, in guten wie in schlechten Zeiten, und dies im feinen Herzen mitfühlend und empfindend – dies öffnet die Tore zu Heilung und Liebe. Einer Liebe, die weder rational berechnet noch emotional bewertet. Einer Liebe, die einfach alles annimmt und liebt, gerade so, wie es ist.
So können wir im „Spiegelbilde des Ähnlichen“ das uns zur Ganzheit Fehlende lesen und erkennen. Wenn wir im stillen Lichte reinen „Ge-wahr-seins“ Indras Spiegelwelten erforschen, erkennen und spüren wir, dass wir selbst „Mal-er“ bzw. „Pain-ter“ unserer Lebenswelten sind. Wir lernen, Verantwortung für unsere „mal-a“ (lat. = Leiden) und unseren „pain“ (engl. = Schmerz) zu übernehmen. Indem wir uns als Urheber unseres Spiegelbildes erkennen, und dieses mit offenem Herzen betrachten und annehmen, vermögen wir als „Heiland“ in das „heile Land“ unseres Wesenskristalls einzukehren und mit dem Urbild des EINEN zu verschmelzen.