Neulich durfte ich einer Yogaklasse bei der Arbeit zuschauen. Es war eine größere Klasse von über dreißig, vierzig Personen, die hübsch gekleidet auf ihren farbenfrohen Yogamatten Yogaübungen vollzogen. Angeleitet wurden sie von einer Lehrerin mit Assistentin. Aus der Perspektive des stillen Beobachters, der ich war, entstand vor meinem inneren Auge dann folgendes Bild: Im Gleichklang der bedächtig ausgeführten Bewegungen formte sich aus den individuellen Teilnehmern, also aus zahlreichen Einzelkörpern, plötzlich ein einzelner Gruppenkörper. Ich sah diesen Körper zunächst schlafend, wie in einem Bett liegend. So wie er dalag, musste er schon lange geschlafen haben. Viele Jahrhunderte, ja vielleicht sogar Jahrtausende, versunken in einem Traum der Vergessenheit. Aber etwas musste ihn plötzlich geweckt haben. Eine geheimnisvolle, intuitive Kraft ihn zum Gähnen, zu einem tiefen Atemzug inspiriert haben. Im Strom dieses Atemzuges begann der Körper sich schließlich zu bewegen. Er räkelte, dehnte und streckte sich. Er beugte und drehte sich – und wollte gar nicht mehr damit aufhören. Empfindungen von Wärme und Wohlbehagen schienen sein Gewebe, seine Fasern, seine Zellen zu durchfluten. Und ich sah, dass dort etwas erweckt wurde, das erwachen wollte. Es schien eine Kraft zu sein, die lange Zeit so fest eingewickelt gewesen sein musste, dass sie sich selbst zu ersticken drohte, dass sie sich selbst und ihre Herkunft vergessen hatte. Im Banne dieser Vergessenheit musste diese Kraft irgendwann damit begonnen haben, sich selbst für das Eingewickelte zu halten. Und so war ihr wohl nichts anderes übrig geblieben, als sich als „Wickel“ durch ihren Traumschlaf zu bewegen und zu winden, und sich immer weiter in ihren Traumgebilden zu verwickeln. Auf diese Weise musste die Last, die sie umgab, dichter und dichter, schwerer und schwerer werden, so dass das Gewickelte zum Gewichte wurde, das Gewichte zur Wichtigkeit, und diese schließlich zur „Ich-tigkeit“.
Doch jetzt war plötzlich diese neue Kraft gekommen, und aus der Stille des Überraumes schien sie sanft zu rufen: „Wach auf aus deinem Traumschlaf! Wickle dich aus! Entwickle dein Wesen, das du wirklich bist! Und erkenne den Träumer, der dich träumt!“ Diese Stimme ist der Klangstrom des Yoga.
Wann immer Yoga gerufen, genannt, gelebt, gebraucht oder geübt wird, ist dies die Bewusstseinskraft, die dadurch angesprochen ist, und die sich uns liebend schenken möchte. Dieser liebende Schenkstrom entspringt einer himmlischen Quelle, die an Weisheit, Reichtum und Fülle alle unsere körper- und verstandgebundenen Vorstellungen weit übersteigt.
Diese Quelle stellt dem Yogi über kurz oder lang wundersame Kräfte zu Verfügung, die er jedoch in seiner Liebe und Ich-losigkeit zu tragen lernen muss. „Siddhis“ werden diese Kräfte in Indien genannt. Man versteht darunter psycho-spirituelle, magische, ja übernatürliche Kräfte, die durch das Streben nach Erleuchtung beim Verbrennen der einzelnen Hüllen unserer Persönlichkeit, die als Schleierschichten unser wahres Wesen verhüllen, als geheimnisvolle Asche, als Vibhuti, von uns abfallen. Manch einer empfindet diese großartigen Kräfte als einen ihm zustehenden Lohn, als Bestätigung seiner Mühen, und ist schnell verführt, Anhaftung daran zu entwickeln. Aus der selbstsüchtigen Anwendung dieser Kräfte können dann leicht Methoden, Praktiken und Doktrinen entstehen: Yoga für einen schöneren, kraftvolleren Körper. Yoga für mehr Erfolg im Beruf. Yoga gegen Stress. Yoga für mehr Glück im Leben. Yoga für dies und Yoga gegen das …
Im hypnotischen Banne solcher Kräfte ist der Yogi jedoch längst zum Magier geworden. Was als Entwicklung begann, als Sehnsucht nach Entblätterung unseres wahren Wesens im Lichte der Erleuchtung, kann durch magische Praktiken nur allzu leicht neue Verwicklungen erschaffen. Und so beginnt der „Wickel“ von neuem an Masse und Dichte zuzunehmen, und „Ent-wicklung“ wird in ihr Gegenteil verkehrt.
Die Erfahrungen magisch erzeugter „Ver-wicklungen“ unseres Menschenwesens spiegeln sich klangsprachlich im niederdeutschen Wort „Wicker“ = „Zauberer“ oder aber auch im altenglischen „wicca“ = „Hexer“ wider.
Es sind die Schleier der Dualität, die den Magier bilden und verführen, „für“ oder „gegen“ etwas zu sein. Und in diesem Sinne gefällt es ihm, in den Lauf der Schöpfung einzugreifen und magisch Einfluss zu nehmen. Über die Urzauberformel der Magie: „Des mag i und des mag i net“, zaubert er an seinem Vorteil, manipuliert er den scheinbaren Triumph seiner „Ich-tigkeit“ über die Schöpfung Gottes.
Der Urgeist des Yoga hingegen möchte schwer-wiegende „Ich-tigkeit“ in seelen-leichte „Licht-igkeit“ wandeln, die jede Suppe, die der unermessliche EINE Weltenkoch ihr serviert, hingebungsvoll auslöffelt, ohne sie vermittels „Maggi“ zu eigenen Gunsten nachzuwürzen.
Aus dieser Narretei, aus diesem „Narren-ei“, entspringt der Ur-Yogi als heiliger Narr wie neugeboren: Als Überläufer, als Fahnenflüchtiger hat er die Flaggen des Vordergründigen verlassen, um sich dem heiligen Gral des Hintergründigen zu ergeben. Hier erlebt der Yogi seinen Samadhi, das Ende seiner Reise. Im Ascheregen seiner verlöschenden Persönlichkeit verbleibt ihm nichts als Atman – der eine Atem Gottes.
„Hier, so ausgelöscht und null und nichtig, so all-ein, könnte außer Liebe gar nichts sein.“ Dies ist die Weisheit des erleuchteten Narren, des Narayana, des all-einigen Menschensohns.