Svarupa lautet der göttliche Imperativ, der dem Menschen ins Innerste seiner Seele eingehaucht ist. Das Prinzip Svarupa ermächtigt den Menschen, in die Form zu fließen, die Gott als dem Lebe- und Liebewesen in ihm entspricht. Svarupa möchte, dass der Mensch sich seinem innersten Wesenskern, seiner wahren Natur (Brahmatattva) entsprechend zum Ebenbilde formt.
Sva bedeutet so viel wie „das, was dir wahrhaft innewohnt“. Rupa bedeutet Form. Wenn dem Menschen die Erinnerung an das, was ihm wirklich innewohnt, verblasst, gerät Sva in Vergessenheit. Übrig bleibt Rupa, eine Fixierung auf die äußeren Formen des Materiell-Weltlichen, auf Körper, Namen, Objekte und Vorstellungen. Das Rupa-Bewusstsein vergröbert den Menschen, lässt ihn stofflich dichter werden, nährt seine „ruppige“ Ich-Natur und verwandelt ihn schließlich, um mit einem Bilde zu sprechen, in eine Art Raupenwesen.
Als „Raupe Nimmersatt“ dringt er immer tiefer in die Welt der Minerale, der Pflanzen und Tiere ein. Auch vor sich selbst macht er keinen Halt. Gierig frisst er sich wie ein Virus durch die Schöpfung und zwingt ihr seinen Stempel auf. So „raupt“ er sich raubend durch die Zeitalter und schleudert mit Raubtiergebrüll unentwegt sein schlachtrufendes Mantra in die Welt: „MEIN!“ Die Schöpfung bedeutet für den Rupa-Menschen nicht mehr als ein Mienengeschäft.
In diesem Wahn wähnt sich der im Kokon des verstandesdenkenden Ich, im Mind (engl. = Verstand, Gemüt) gefangene Mensch, der immerzu nur „meint“ und dadurch hoffnungslos einem krankhaften Besitzdenken verfallen ist. Dass er sich dabei „mind-erer“ Kräfte bedient und diese unentwegt in die Welt zeugt, ist ihm nicht bewusst. Als gefräßige Raupe ist er allein an Rupa, also an den materiellen Formen, interessiert und mit deren Raubbau befasst. Das vom sichtbaren „Mein“ überlagerte unsichtbare, heilige „Sein“ bleibt ihm somit verborgen.
So spinnt der Mensch wie eine Seidenraupe sein Gespinst, bestehend aus einem einzigen, endlosen Faden von Gedankenketten, Wünschen, Begierden, Hoffnungen und Ängsten. Er spinnt und spinnt, und merkt nicht, dass er sich dadurch mehr und mehr in einen dichten Kokon aus falschen Vorstellungen verpuppt, der ihn schließlich ganz gefangen nimmt. Als verpupptes Larvenwesen ist der Mensch seines Svarupa, seiner wahren, atmischen Gestalt, die ihm Freiheit und Ausdrucksvielfalt ermöglicht, nun gänzlich beraubt und den ihn umgebenden Kräften auf Gedeih und Verderb ausgeliefert. Wirkliche Begegnungen, von Wesensgestalt zu Wesensgestalt, von offenem Herzen zu offenem Herzen, sind aus dem Kokon heraus nicht möglich. Allenfalls Scheinbegegnungen. Das von Trennung und Isolation geprägte Leben im Kokon hat ihn geschwächt, ihm die Immunität genommen und ihn anfällig für Krankheiten gemacht. Nicht auszudenken, sollten Schädlinge in den Kokon eindringen.
Die Vorstellung vom Leben hängt beim verpuppten Menschen sprichwörtlich immer an einem seidenen Faden, was Angst und Panik bewirkt. Dies ruft wiederum die allmachtsgläubigen, halbseidenen Puppenspieler auf den Plan, die, meist unter dem Vorwand des Schutzes, gar nicht genug verpuppte Wesen unter ihren machtgierigen Marionettenstäben bündeln können, um sie an ihren Fäden uniformiert tanzen zu lassen. Doch das Besondere an unserer Zeit ist auch, dass das „Fadenscheinige“ und die „Fadenscheinigen“ mehr und mehr die Tarnkappen verlieren. Denn das vormals Unsichtbare, Verborgene drängt auf geheimnisvolle Weise zunehmend in die Wahrnehmung des kollektiven Bewusstseins – bereit zur Entlarvung?
Ein Großteil der Menschheit trägt nun deutlich sichtbar ihre Larve im Gesicht. „Larve“ ist eine alte Bezeichnung für Gesichtsmaske, jenen Schleier also, mit dem die Menschheit derzeit freiwillig oder unfreiwillig, und aus welchen Gründen auch immer, ihre Gestalt verhüllt und ihren selbstgesponnenen Kokon zur Schau trägt. Endlich, möchte man fast rufen, ist es offenbar geworden!
Die notgedrungen kontemplative Zeit im Kokon kann für die Raupe Mensch jedoch überaus fruchtbar sein, denn sie bietet die wunderbare Gelegenheit, den Weg der Metamorphose zu gehen, der Gestaltwandlung, ja der Gestaltverwirklichung. Vielleicht sind wir Menschen müde und erschöpft von der nimmersatten Raupenexistenz und der Getrenntheit im Kokon? Sehnen uns nach dem lichten Quellursprung des Lebens? Nach der Leichtigkeit, Einfachheit und All-Einheit eines Lebens aus dem Sein?
Für die unzufriedenen Zeiten der Gefangenschaft hält die universelle Weisheit den kostbaren Schatz der Anamnesis bereit, wie Platon das Wiedererinnern der Seele an ihr wahres Wesen bezeichnet. Anamnesis Svarupa: „Ich fließe in die Form, die Gott als meinem wahren Wesen (Brahman) entspricht“. Diese Wahrheit wird dem Menschen, der sich zutiefst in die Stille begibt, früher oder später enthüllt. Im metamorphosierenden Prozess des Übergebens unserer ruppigen Raupennatur (Rupa) an Arupa, das formlose All-Eine unserer Wesensessenz, den Herrn der Liebe, das Feinste des Feinen, das unvorstellbar Unvorstellbare, schlüpft aufs Mal ein bunter Schmetterling aus dem Kokon und fliegt in Freiheit davon.
Dieser Artikel ist am 28.09.2020 erschienen.