Es ist schon so eine Krux mit der Erleuchtung. Selbst wenn man sie nur partiell erreichen will. Zeit für eine rigorose To-Do-Liste
Neulich erhielten wir in unserer Yogastunde wieder eine kleine Einweisung in das Yogasutra. Und eher beiläufig erwähnte unsere Lehrerin, dass es „die Erleuchtung schlechthin“ nicht geben würde. Die – bis dato zumindest bei mir vorherrschende – Idee von der gesamten General-Erleuchtung in allen Lebensbereichen konnte also gleich abgelegt werden. Dafür kam aber ein Tipp, dass es anscheinend etwas wie Teil-Erleuchtung gibt: Sozusagen könnte man beispielsweise im spirituellen oder materiellen Bereich erleuchtet sein, aber vielleicht im zwischenmenschlichen nicht. Zumindest verknüpfte mein Hirn diese Information von da an so. Und derart aktuell gebildet, was Erleuchtung anging, wankte ich yogazufrieden nach Hause.
Dort wuselte sich eine Überlegung tagelang weiter durch meine Alltäglichkeiten und Gedanken: Wäre es möglich, eine Art Erleuchtungs-Checkliste zu erstellen? Etwas, anhand dessen sich feststellen ließe, inwieweit der Erleuchtungsgrad auf welchem Gebiet schon vorangeschritten ist? Und wenn ja: Welche Punkte hätte meine persönliche Liste? Welche Themen und Bereiche würde ich für erleuchtungsbereit und -erarbeitungswürdig erachten? Liebe? Job? Finanzlage? Familiensituation? Oder würde es sogar vor so banal-alltäglichen Dingen wie „Freundlichkeit am Telefon“ oder „Beherrschung am Bankautomaten angesichts einer langen Schlange“ nicht halt machen? Und wie könnte man so etwas bewerten? Gibt es da ein erprobtes Punktemodell? So etwas wie ein Karmabonussystem?!?
Das Leben lässt sich nicht theoretisch erforschen, man muss es er-leben.
„Also hinein in die Erleuchtung!“, dachte ich mir und nach einigen Stunden mit erstaunlich selbstzerfleischwolfendem Blick hatte ich sie fertig: Meine ganz persönliche Erleuchtungsliste! Die ersten drei Punkte versprachen harte Arbeit zu werden. Und Punkt Vier bis Zehn wurden von wenig ehrfürchtigen Kindern in einem unbeobachteten Moment mit irgendeiner Masse zugekleistert. Mein erleuchteter Süßwaren-Gaumen tippte nach kurzem Test auf alte Schoko-Nikoläuse.
Jetzt galt es, den aktuellen Stand – die Erleuchtungsgrade für die jeweiligen Punkte – festzustellen. Nach einigen kläglichen Rechenversuchen entschied ich mich für die demütige Variante und beschloss, mich rundum bei allen Punkten für den Status des „Unerleuchtet / Blutiger Anfänger“ einzustufen. Aber jetzt erst ging es daran, meine Liste mit Erleuchtungsarbeit zu bereichern. Wie sollte ich da vorgehen? Arbeitet man Punkt für Punkt ab? Und muss man diese Liste immer dabei haben, sozusagen allzeit bereit für Erleuchtung? Auch bei einem Rendezvous? Das fing ja schon gut an: Statt Antworten erhielt ich noch mehr Fragen!
Zum Glück hatte ich an dem Punkt der Überlegungen erst einmal wieder eine Yogastunde.
Als ich in den Unterrichtsraum kam, fiel mir ein Wesen sofort auf und stellte sich als neue Teilnehmerin vor. Dagegen ist ja nichts einzuwenden, aber sie hatte sich auf meinem Platz breit gemacht. Auf MEINEM Platz! Und ich musste, auch noch neben ihr!, ein Fleckchen für die nächsten neunzig Minuten finden! Und Atmen würde ich neben der sowieso nicht können, weil sie irgendeine Creme benutzt hatte, deren Duft für irgendwen irgendwann bestimmt so etwas wie „betörend“ sein könnte. Für mich war er einfach nur zum Davonlaufen. Und wie die atmete! So laut und stimmvoll… Eine unentspannte Wut machte sich breit: „Stell’ dich nicht so an!“, rügte mich flüsternd eine innere Stimme. Aber das andere Stimmchen in mir war weniger weise, sondern ungefähr drei Jahre alt und trotzig.
Nach der Unterrichtsstunde, während der ich mehr mit meiner inneren Dreijährigen als dem bewussten Üben von Asanas beschäftigt war, traf ich mich mit einer Freundin. Als Kinderpflegerin hatte die ein gutes Händchen für solche erwachsenen Trotzköpfe, wie ich es gerade war. Ich schilderte die Unglaublichkeiten, die mir ausgerechnet im Yogaunterricht zuteil geworden waren, und sie – lächelte.
„Weißt du, vielleicht kannst du etwas von ihr lernen.“ Ich?!? Von der?!!?? Klar…
„Und es gibt da einen Trick“, sagte sie, „Dann wirst du bestimmt nicht mehr wütend. Beim nächsten Mal stellst du dir einfach vor, sie ist erleuchtet und du nicht.“
So, jetzt war auch noch meine Freundin total durchgeknallt: Wieso sollte ich mir jemanden wie das Wesen als Lerneffekt zur Erleuchtung vornehmen?!?
Meine innere Dreijährige behielt die trotzige Oberhand und speicherte den Tipp als „unbrauchbar“ ab.
Eine Woche später fand ich mich wieder im Unterricht, und wieder nicht auf MEINEM Platz, der – natürlich – von dem Wesen belegt war. Schon ging auch fast wieder mein innerer Aufstand los, als mir durch unerklärliche Synapsenverbindung meine Freundin und der Erleuchtungs-Trick einfielen.
Ich sah das Wesen an, das mir meine inneren Wutwallungen bescherte (und dabei auch noch lächelte!) und atmete tief ein (und schon wieder flog mich so ein Schwall ihres Duftes an!) und – go!: „Du bist erleuchtet und ich nicht.“.
Nix. Noch mal? „Du bist erleuchtet und ich nicht.“ – komisch, was man alles macht, um seiner Wut Herrin zu werden. „Du bist erleuchtet und ich nicht.“ Ich musste lächeln, weil das alles wirklich zu komisch war. Das Wesen lächelte zurück.
Und gleich noch einmal: „Du bist erleuchtet, und ich ein kleiner unwissender Wurm!“. Ein breites Grinsen zog sich über mein Gesicht. Grinsen über mich, diese Situation, und überhaupt – wenn sie soweit weg stand wie jetzt, konnte ich sie sogar fast riechen.
Nach weiteren drei Erleuchtungs-Übungssätzen war die Wut weg, mein Grinsen breit geblieben und die Stunde auch schon fast vorbei. Am Ende dieses denkwürdigen Unterrichts kramte ich beim Umziehen in meiner Tasche und dabei fiel mir ein zerknüllter Zettel in die Hände: Meine Erleuchtungs-Checkliste! Die hatte ich ja fast vergessen.
Ich entknüllte die Liste vorsichtig und holte einen Stift heraus. Denn in Punkt Drei war ich seit heute einen Schritt vorwärtsgekommen: „Erleuchtung im Umgang mit meinen Mitmenschen.“