Der Drang des Menschen nach Transzendenz.
Der Wunsch, die menschliche Bedingung zu transzendieren, über das gewöhnliche Bewußtsein und die normale Persönlichkeit hinauszugehen, ist ein tief verwurzelter Drang, so alt wie die sich selbst wahrnehmende Menschheit. Wir können ihn am Werke sehen in den magisch erfüllten Höhlenmalereien Südeuropas und, noch früher, in den Begräbnisritualen der Steinzeit im Mittleren Osten. In beiden Fällen kommt das Bedürfnis zum Ausdruck, sich mit einer größeren Wirklichkeit zu verbinden. Wir begegnen diesem Bedürfnis auch in den animistischen Glaubensvorstellungen und Riten des archaischen Schamanismus, und wir sehen seinen blühenden Ausdruck in den religiösen Traditionen der neolithischen Ära – in der Indus-Sarasvatî-Zivilisation, in Sumer, Ägypten und China.
Doch nirgendwo auf der Erde fand der Drang zur Transzendierung beständigeren und kreativeren Ausdruck als auf dem indischen Subkontinent. Die Zivilisation Indiens brachte eine geradezu überwältigende Vielfalt spiritueller Glaubensrichtungen, Praktiken und methodischer Vorgehensweisen hervor. Sie alle zielen auf eine Wirklichkeitsdimension ab, die das individuelle Menschenleben und den geordneten Kosmos menschlicher Wahrnehmung und Vorstellung weit übertrifft. Diese Dimension ist mit unterschiedlichen Begriffen, wie Gott, Höchstes Sein, Absolutes (transzendentes) Selbst, Geist, Nicht-Bedingtes und Ewiges, bezeichnet worden.
Viele Denker, Mystiker und Weise – nicht nur in Indien, sondern auf der ganzen Welt – hinterließen uns eine große Menge sinnbildlicher Vorstellungen oder abstrakter Erklärungen hinsichtlich der höchsten Realität und deren Beziehung zum manifestierten Universum.
Jedoch stimmen alle darin überein, dass Gott oder das Selbst sowohl Sprache wie Verstand überschreiten. Mit wenigen Ausnahmen postulieren sie einstimmig drei Attribute des Höchsten:
Es ist Eines – d. h. ein ungeteiltes, in sich vollständiges Ganzes, außerhalb dessen nichts anderes existiert. Es besitzt einen höheren Grad der Wirklichkeit als die Welt der Vielheit, wie sie durch unsere Sinne widergespiegelt wird. Es ist unser höchstes Gut (nihshreyasa; lateinisch: summum bonum), d. h. der wünschenswerteste aller möglichen Werte.
Außerdem behaupten viele Mystiker, dass die höchste Realität unendlich beseligend ist. Diese Seligkeit stellt nicht bloß die Abwesenheit von Schmerz oder Ungemach dar, ist auch nicht ein lediglich neurologisch induzierter Zustand. Sie findet sich jenseits von Schmerz und Lust, welche letztere nun in der Tat Zustände des Nervensystems sind. Hand in Hand geht das mit dem einmütigen Beharren der Mystiker darauf, dass die lebendige Verwirklichung des transzendentalen Einsseins nicht eine Erfahrung ist, wie […]