Unser Alltagsgeist ist oft so verstrickt, dass er nicht mehr zum heilen Wesenskern in uns vorzudringen vermag. Über die Erfahrung des inneren Heilseins in der Meditation.
Heilsein ist, genau wie die bedingungslose Liebe, das allumfassende Mitgefühl oder das Urvertrauen, eine Seinsweise unserer non-dualen, unvergänglichen Urwirklichkeit. In diesem unendlichen Bewusstseinsfeld wartet eine Fülle von „Kann-Möglichkeiten“ in einem „Erwartungsfeld“ auf Verwirklichung im realen, äußeren Leben (nach Prof. Dr. Hans-Peter Dürr, Quantenphysiker). Nur unter bestimmten geistigen und energetischen Bedingungen können und werden die Potenziale des „höheren Bewusstseins“ auf unterschiedliche Art und Weise Gestalt annehmen und verändernd wirken.
Der größte Teil dieses allumfassenden „Hintergrundfeldes“ bleibt für viele Menschen aber mehr oder weniger unbewusst und damit weitgehend wirkungslos. Die Voraussetzungen für die Tiefenerfahrung und ihre Umsetzung im normalen Leben sind meistens nicht – oder bisher noch nicht ganzheitlich und nachhaltig genug – entwickelt worden. Grund dafür ist der Zustand unseres „Alltagsgeistes“ (Chitta), der auf äußeres Funktionieren, rein mentales Optimieren und materielles Wachstum fokussiert ist.
Er ist durch eingeübte Denk- und Verhaltensmuster der Vergangenheit überladen und gebunden, gleichzeitig aber auch durch die Reizüberflutungen und Anforderungen der Gegenwart unruhig und zerstreut. In diesem Zustand reagieren wir sofort auf die psycho-mentalen Wellen (Vrtti), die von äußeren Ereignissen oder inneren Prozessen ausgelöst werden. Ohne innezuhalten, beschäftigen wir uns mit ihnen, geben ihnen unsere gesamte Aufmerksamkeit und damit unsere Energie. Wir verlieren immer mehr die Kraft der klaren, spürenden Achtsamkeit, durch die Raum für die Erkenntnis von Auslösern und Hintergründen entstehen kann. Neues, offenes, weites Bewusstsein und Heilung können sich auf diese Weise nicht entfalten.
Das Wesentliche, das Heilende, das von Leid Unberührte, das wir zutiefst sind, bleibt verborgen. Es kann nicht durch den Kokon der Verwicklungen und Anhaftungen hindurchdringen und heilwirksam werden. Stattdessen breiten sich körperliche, seelische und mentale Disbalancen und Defizite aus. Sie verstärken das Gefühl des Getrenntseins. Die Angst, hilflos Spielball aller Lebenssituationen zu sein, breitet sich aus. Die Leidensfalle schnappt zu. Gleichzeitig meldet sich glücklicherweise aber auch tief im Herzen vieler Menschen eine Sehnsucht nach Ganzsein, nach Heilsein. Das ist der leise Ruf unserer Urwirklichkeit zur Umkehr, und vielfach keimt eine Ahnung auf, dass Umkehr, ja Heimkehr, zu sich selbst möglich ist.
Die Voraussetzungen für den inneren Heilungsprozess
Meistens stellen wir erst in einer Krise fest: Es muss sich etwas ändern! Zunächst geht es den meisten Menschen um sofortige Symptombehandlung: Zum Beispiel muss der Schmerz so schnell wie möglich verschwinden, die Schlaflosigkeit muss beendet werden usw. Diese Bedürfnisse sind legitim und müssen, gerade auch in der Yogatherapie, ernst genommen und bei der Auswahl der Anwendungen berücksichtigt werden. Im Grunde geht es aber nicht nur um zeitweilige Schmerzen jedweder Art. Diese Erfahrungen macht jeder Mensch in seinem Leben. Das ist normal. Patanjali nennt sie im Yogasutra Hindernisse (Antaraya) auf dem Weg zu klarer Wahrnehmung und Einfühlung. Sie sind die Auswirkungen eines zerstreuten und unklaren Geistes (Chitta). Wir sprechen heute von Stress und Burnout durch die individuellen Lebensbedingungen und die zwanghafte Reaktion auf jede Herausforderung. Wiederholen sich diese energetischen und mentalen Disbalancen dauerhaft und werden sie nicht unterbrochen, dann verfestigen sie sich zu einem inneren Zustand des Leidens an diesem eingeschränkten und anstrengenden Leben (Duhkha).
Am Anfang steht die radikale Akzeptanz dessen, was ist. Dadurch werden wir frei für die vielen Möglichkeiten und Impulse zur Heilung.
Duhkha ist eine Empfindung von Enge im Herzen. Die Verwicklung in die einzelnen Beschwernisse des Lebens macht das Herz eng und schwer. Die Folge ist negatives Denken und auf die Zukunft bezogener Pessimismus. Depression ist die Folge. Von diesem Zustand wird als Erstes unsere Lebensenergie, der Atem, spürbar beeinflusst und gestört. Körperliche Beschwerden bis hin zu schweren Krankheiten sind dann das letzte Glied in der Kette der Auswirkungen eines unruhigen und unklaren
„Alltagsgeistes“, der sein inneres, heiles Sein nicht mehr erkennen kann.
Fazit: Er muss sich ändern! Er kann und wird sich schrittweise ändern, wenn wir bewusst den Leidensdruck unterbrechen und uns dem Weg des Yoga, der Yogatherapie, der Yoga-Meditation anvertrauen. Unser Ego wird sich verändern. Nach und nach verstehen wir alle Lebenszusammenhänge und verändern unseren Blick auf die Welt. Am Anfang steht die radikale Akzeptanz dessen, was ist. Dadurch werden wir frei für die vielen Möglichkeiten und Impulse zur Heilung.
Bewusstwerden und Bewusstsein führen zu klarer Selbstwahrnehmung, zu innerer Selbsterkenntnis der Urquelle des Lebens und zur Selbstfürsorge aus Verantwortung für das Ganze.
Das sind die anfangs erwähnten Voraussetzungen für einen inneren Heilungsprozess, der auf individuelle Weise zu Balance und Kohärenz (Gleichgewicht und gemeinsamer Schwingung) aller Daseinsebenen führen wird. Die körperliche Gesundung ist oft eine Begleiterscheinung dieser inneren Heilung.
Heilwerden durch die meditative Erfahrung des inneren Heilseins
Individuell gestaltete Yogapraxis und individuell immer wieder neu angepasste Yogatherapie bei Störungen und Krankheiten sind die unverzichtbaren Voraussetzungen für die inneren Ziele der Yoga-Meditation:
- klare, unverfälschte, nicht von Gedanken und Emotionen gefärbte Wahrnehmung in jeder Lebenssituation
- die Erfahrung unserer leidfreien Urwirklichkeit als unteilbares Bewusstsein
- die Erfahrung des innewohnenden Heilseins, unabhängig von der gegenwärtigen äußeren Situation
- Verbundenheit und Liebe ohne Bedingungen
- frei sein von egozentrischen Bindungen und Erwartungshaltungen
- Erfahrung des unvergänglichen „Herzgeistes“, der sich dadurch ausdrückt, dass Klarheit und Herzensgüte immer als Einheit im stürmischen Auf und Ab des Lebens positiv verändernd wirken
Die Verwirklichung dieser inneren Ziele der Yoga-Meditation wird sich durch eine besondere Qualität der Yogapraxis von ganz allein einstellen! Wenn man seine äußere Realität, den unruhigen Zustand der Gedanken und Gefühle sowie die körperlichen Folgeerscheinungen verändern möchte, muss man schrittweise die innere Balance von Körper und Geist ermöglichen.
„Jeder Veränderung zur Ganzheit gehen Schritte voraus, die Veränderung ermöglichen“ (R. Sriram zu YS. III, 6: „tasya bhumisu viniyogah“)
Zwei sinngemäß wiedergegebene Aussagen von Sri Krish- namacharya und T.K.V. Desikachar weisen den Weg:
- „Yoga-Meditation bedeutet, dem schon beruhigten Alltagsgeist (Chitta) eine fokussierte Ausrichtung geben zu können.“
- „Meditation braucht einen ruhigen Geist.“
Belegt werden diese Feststellungen durch viele Hinweise im Yogasutra von Patanjali.
Das ganzheitlich und nachhaltig Wirksame der Yoga-Meditation besteht in ihrem integrativ angelegten Weg zu Samyama (vollkommene Versenkung, die das Wissen über das gesamte Sein offenbart (YS. III, 5 nach R. Sriram)).
„Samyama – Integrale Yoga-Meditation“ beinhaltet also zwei ineinander übergehende Aspekte für Veränderung (Transformation) und Einheitserfahrung (Transzendenz):
- energetische Balance und einen beruhigten Geist (Chitta-Vrtti-Nirodha) durch integrativ wirkende Praxis und Therapie
- die Erfahrung des leidfreien stillen Raums der Urwirklichkeit in der Meditation
In diesem Prozess muss jeder vorbereitende Übungsschritt schon weitgehend von zwei scheinbar gegensätzlichen Verhaltensweisen geprägt sein: Im willentlichen Bemühen innerlich gelassen sein (Abhyasa-Vairagya, YS I,12). Das gleichzeitige und gleichwertige Wirken beider Qualitäten ist als eine ganz besondere Beziehung zwischen Wille, Einfühlung und Zulassen zu verstehen. Durch Vertrauen (Shraddha), Bereitschaft zum Handeln (Virya) sowie eine Ahnung (Prajna) vom inneren Ziel des Yoga verschmelzen dabei Vorbereitung und Ziel miteinander. Sie können in den einfachsten Übungen kultiviert und stabilisiert werden. Vertrauen in die eigene Erfahrung entsteht und unterstützt die Einsicht in das innere Heilsein.
Dieses unerschütterliche Erfahrungsvertrauen ermöglicht auch die Hingabe (Pranidhana) an die Lebensenergie (Prana), und damit an das ungeteilte Bewusstsein (Ishvara, Brahman/Atman). Es ist der bewusste Atem, der als subtil integrierende Kraft im Mittelpunkt der Yoga-Meditation und ihrer differenzierten Vorbereitungen wirkt.
In der Yoga-Meditation gehen wir von der Atem-Körper-Geist-Einheit eines jeden aus. Jeder Mensch ist ein Bewusstseinsfeld, in dem alle Erscheinungen energetisch miteinander vernetzt sind. Jede Körperbewegung, jeder bewusste Atemzug und jeder geistige Impuls können bei entsprechender Ausrichtung als Einheit verändernd auf das ganze Feld wirken. Voraussetzung dafür ist die Einübung der „spürenden Atemachtsamkeit“ in jedem Augenblick.
Atemachtsamkeit ist Geistesgegenwärtigkeit. Ruhe im Atem bedeutet auch Ruhe im Alltagsgeist. Es entsteht der „stille Atem“ (Chaturtha, YS II,53), der die anhaltende, einfühlsame Ausrichtung (Dharana) im weiteren Meditationsprozess ermöglicht (Dharana, Dhyana, Samadhi = Samyama). Durch diese Erfahrung kann der nun im Herzgeist integrierte Mensch die widersprüchlichen Ereignisse des Lebens anschauen, aushalten, annehmen und die Leid schaffenden Disbalancen versöhnen und heilen. Der Atem der Stille kommt aus dem Herzen.
Körper-Atem-Geist-Integration durch Bewegung:
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Atmen durch den „Herzpunkt“ im Sitzen, Stille:Nimm eine aufrechte Sitzhaltung ein, schließ die Augen. Berühre ohne Druck mit den Fingerspitzen beider Hände den sogenannten „Herzpunkt“ am Ende des Brustbeins. Lass in den Schultern und Ellbogen los. Spür die innere Atembewegung, bleib passiv, beeinflusse den fließenden Atem nicht. Es atmet. Atemraum und Atemfluss werden allmählich in deiner Wahrnehmung eins. Senk nach einiger Zeit die Hände und Arme, verweile still im Herzraum. Der stille Atem im Herzen und die Klarheit im Geist können sich entfalten. |
Weiterlesen
Vollende, was Du bist. Der integrale Weg (Theseus Verlag)
Klarer Geist – weites Herz. Die Wirkung des integrativen Übens im Yoga (Via Nova Verlag)
Atmen. Die Weisheit der spürenden Achtsamkeit im Jetzt (topos Plus)