Ruminatio und Meditatio, Herzensgebet, Quietismus und neuere Strömungen der Mystik
Der Fromme von morgen wird ein ‚Mystiker’ sein, einer, der etwas ‚erfahren’ hat, oder er wird nicht mehr sein.“ Als der katholische Theologe Karl Rahner in den 1960er Jahren diesen inzwischen berühmt gewordenen Satz formulierte, brachte er eine Revolution zum Ausdruck. Nicht mehr auf Gehorsam gegenüber der vorgegebenen Lehre sollte das Christentum bauen. Die eigene Erfahrung wurde zur Grundlage erhoben. Rahner gebrauchte Mystik, nicht wie damals allgemein üblich, als Schimpfwort. Mystik galt auch nicht mehr als gefährlich. Ganz im Gegenteil: Der Begriff wies auf ein zukünftiges Christsein, das auf eine Erfahrung gegründet und auf authentische Spiritualität ausgerichtet ist. 50 Jahre später scheint diese Zukunft in weiten Bereichen der christlichen Kirchen eingetreten zu sein. Immer breiteren Kreisen wird bewusst, dass die in der Bibel bezeugten Ursprünge des Christentums von einer authentischen Spiritualität getragen waren, die es heute wiederzubeleben gilt. Wenn der Apostel Paulus schrieb, dass nicht er, sondern Christus in ihm lebe oder dass der Leib des Menschen als Tempel des Heiligen Geistes zu verstehen sei, wird Gott im tiefsten Inneren des Menschen gesucht. Von Übungsformen ist in der Bibel jedoch noch nicht die Rede. Zu sehr war man zur Entstehungszeit des Christentums noch von der ersten religiösen Begeisterung getragen, als dass Übungen als notwendig angesehen wurden. Dies änderte sich jedoch im vierten Jahrhundert, als sich die Christen im damaligen römischen Reich etablierten und der erste Elan erschlaffte.
Die Grundlagen der christlichen Übungspraxis
Es waren die „Wüstenväter“ oder „Mönchsväter“, die die gefestigten Gemeinden verließen, um in Einsiedeleien der Wüsten Ägyptens und Syriens wieder eine ursprüngliche Spiritualität zu kultivieren. Diese Pioniere legten die Grundlagen der christlichen Übungspraxis. Man praktizierte Askese im Sinn der „Übung der Enthaltsamkeit“. Die Mönche übten den Verzicht auf all die Dinge der Welt, von welchen sie sich abhängig fühlten. Darüber hinaus rezitierte man biblische Texte. Aus dieser Rezitationspraxis ging dann eine ganz besondere Gebetsform hervor, die mit Makarios dem Großen in Verbindung gebracht wird. Makarios betonte, im Gebet nicht viele Worte zu machen. Wie das Kamel seine Nahrung immer wieder und lange Zeit kaut, so sollte auch die Gebetsübung aussehen. Makarios sprach von der Übung der „ruminatio“, einem Beten als „Wiederkäuen“. Dabei wurde vor allem der Name […]