Eine Sprache mit Ausnahme-Charakter: Sanskrit ist weit mehr als ein Kommunikationsbehelf
Vor langer Zeit war ich einmal als Mitarbeiter in der Bibliothek eines Indologischen Instituts tätig. Eines Morgens, als es noch sehr früh war, klingelte es plötzlich an der Tür und vor mir stand ein Inder, der gleich auf den ersten Blick wie ein Pandit erschien, ein Sanskrit-Gelehrter. Er schaute mich freundlich an und sagte, er würde sich gern mal die Bibliothek ansehen. Nach ein paar flüchtigen Blicken auf die Regale fragte er mich, ob ich Sanskrit verstünde. „Ein wenig“, antwortete ich auf Englisch. Kaum hatte ich diese Worte gesprochen, da begann er schon mit fester, resonanter Stimme zu chanten. Ich merkte sogleich, dass es Hymnen aus dem Rig Veda waren, und er rezitierte sie mit dem typischen indischen Tonfall. Ich hatte damals schon zweimal Indien besucht und fühlte mich unwillkürlich wieder in die Atmosphäre dieses Landes versetzt, als die Klänge der Sanskrit-Sprache die Bibliotheksräume erfüllten.
Einige Minuten lang chantete er ununterbrochen, während ich sprachlos lauschte. Dann sagte ich: „Vielen Dank für die wunderbare Rezitation. Das war wirklich ein schönes Geschenk – ich habe heute Geburtstag.“ Das freute den Pandit überaus, und sogleich folgte eine Zugabe. Daraufhin sah er sich noch ein wenig in der Bibliothek um und entschwand alsbald, indem er mir mitteilte, er nehme an einem Kongress in der Stadt teil. Eindrucksvoll hatte mir diese spontane Erfahrung verdeutlicht, wie sehr Sanskrit die Kraft hat, innerhalb kürzester Zeit eine bestimmte Stimmung aufzubauen und uns in jene Welt hineinzuversetzen, die eng verknüpft ist mit der des Yoga und des wahren spirituellen Indiens.
Die Überlieferung
Das erste Wunder der Sanskrit-Sprache ist, dass sie uns über einen Zeitraum von Tausenden von Jahren so vollkommen überliefert wurde. Auch die chinesischen Schriftzeichen und die ägyptischen Hieroglyphen gehen auf älteste Zeit zurück, doch wurden sie nur visuell tradiert, ohne dass uns die damalige Aussprache bekannt wäre. Die Sanskrit-Sprache dagegen wurde in bestimmten Familien von Dichtern, Gelehrten und Priestern von Generation zu Generation vor allem mündlich weitergegeben. So wurden die 1028 Hymnen des Rig Veda mit einer ausgefeilten Gedächtnistechnik memoriert und erst relativ spät auch schriftlich fixiert. Es ist möglich, dass sich die Aussprache im Laufe der Zeit ein wenig gewandelt hat, doch gibt es dafür […]