Die Sehnsucht nach einer Phase in der Qualität des Yin führte unsere Autorin an einen einsamen Strand, wo sie sich träumerisch treiben ließ – und dabei wie in einem wunderbaren Spiel immer wieder das Yang aufblitzen sah.
In der Dämmerung gehe ich spazieren. Die Wolken jagen über den Himmel.
Geier sitzen auf einem entwurzelten Baum. Sie fliegen nicht auf, als ich näherkomme. Einige kreisen noch in der Luft, elegant und gelassen.
Yin und Yang, passiv und aktiv, Nacht und Tag, Licht und Schatten, Wasser und Feuer, Winter und Sommer, der Rhythmus. Wenn das aktive Prinzip steigt, sinkt das passive Prinzip. Bis die Aktivität ihren Höhepunkt erreicht hat und wieder absinkt, und so das Yin aufsteigt, das immer da ist, Lebenskraft, die alles durchdringt.
Das Symbol: zwei ineinander verschlungene schwarz-weiße Tropfen, die einen Kreis bilden. Das eine kann ohne das andere nicht sein. Gegensätze wollen sich nicht zerstören, sondern tanzen miteinander.
Aber hütet euch – im Schwarz liegt der weiße Same, im Weiß der Same des Schwarzen. In der Niederlage liegt der Same des Erfolgs, im Erfolg schon die kommende Niederlage. So sehen das die alten chinesischen Weisen.
Ich finde das aufregend. Ich möchte eine Yin-Zeit erleben. Bin schließlich eine superaktive Yang-Frau – wenn man das mal so salopp sagen darf.
Geht das eigentlich, so ganz und gar nur Yin? Ich weiß nicht, wie. Aber eine meditative Zeit am Meer, nur ich und ich, ohne Buch, ohne Computer, ohne Telefon – das klingt doch wie einwandfreies Yin: Wasser und eine Reise nach innen, wo ich ohne Tun in die Welt schaue, ganz weiblich-passiv eben. Beobachten, ohne zu urteilen oder zu handeln. Die Zeit, in der ich das erleben möchte, ist aber einwandfreies Yang – Sommer eben. Andererseits ist hier am Äquator Regenzeit, und ein bewölkter Tag im Sommer ist wieder Yin, wie auch der Regen.
Das Mäandern der Zeit im Yin
Mein Haus ist klein. Zwei große, schwarze Geierfedern stecken auf der Balustrade am Eingang. Aufrecht schützen sie meinen Ort.
Nein, ich wohne nicht alleine dort. Am Tag füttern unter dem Vordach am Eingang Schwalben ihre Jungen. Die haben riesige, gelbe Schlünder, und sie tschilpen und reden den ganzen Tag. Die Schwalben fliegen um mein Haus, lassen […]