Es hat sich durchgesetzt zu behaupten, man befände sich nicht in seiner Mitte oder man fühle sich nicht zentriert, wenn es einem nicht gutgeht. Was meinen wir mit dieser Aussage eigentlich? Wenn es nicht unsere eigene Mitte ist, in der wir uns befinden, in welcher anderen Mitte sind wir dann?
Asmita: yogaphilosophisch berüchtigt
Die Überlegung deutet schon an, dass etwas anderes uns vereinnahmt hat. Eine derart große Sogwirkung hat Asmita, ein Instrument unseres Verstandes, das yogaphilosophisch berüchtigt ist. Im modernen Sprachgebrauch nennen wir es „Ego“. Berüchtigt ist es, weil wir dabei an Rücksichtslosigkeit, Ellbogen und Narzissmus denken. Das Ego sorgt aber auch dafür, dass wir am Leben sind. Ohne Ego und im „Wir sind alle eins“- Dauermodus wäre unserem Selbsterhalt nur wenig gedient. Es kann sinnvoll sein, sich von anderen abzugrenzen, für sich selbst zu sorgen oder seine Projekte umzusetzen. Dieser Mechanismus wird aber manchmal zwanghaft, und dann zieht uns das Ego in die Egozentrik. Diese beschreibt den Zustand abseits unserer eigentlichen Mitte, die ich hier unser wahres Selbst nennen werde. Wir befinden uns dann im Mittelpunkt unseres Egos und bauen darum herum einen ganzen Orbit, oft begleitet von dem Gefühl, „verrückt“ von unserem wirklichen Zentrum zu sein. Im Egozentrum geht’s nämlich stürmischer zu.
Der Ego-Automat und seine Eigenschaften
Hat das Ego uns in seine Herrschaft gezogen, dann wird es zum Automaten, der Sticker produziert, auf denen der Buchstabe „m“ steht. Die Sticker machen aus „ein Haus“ „mein Haus“, aus „ein Kind“ „mein Kind“, aus „ein Geschlecht „mein Geschlecht“, aus „ein Partner“ „mein Partner“. Dieses m zieht die materiellen Dinge der Außenwelt in unsere Innenwelt und erschafft Identifikation und Anhaftung. Das Ego sorgt dafür, dass ich mich als ein von den anderen getrenntes Ich wahrnehme und daran glaube, dass mir Dinge gehören. Diese Dinge verteidigen wir gegen andere.
Wir sind in dem Fall zwar zentriert, aber eben um das Falsche, und das verändert maßgeblich unsere Perspektive und Selbstwahrnehmung. Eine Beispielüberlegung: Welche von den Dingen, die du während der Pandemie vermisst hast, brauchst du wirklich, wenn morgen schon das Atomkraftwerk um die Ecke in die Luft fliegen kann? Probleme sind durch unser Ego perspektiviert.
Das Ego gaukelt uns vor, wir bräuchten die Dinge im Außen, um uns gut zu fühlen und um unsere Persönlichkeit aufrecht zu erhalten. Daher ist es erschüttert und ent-täuscht, wenn diese äußeren Dinge nicht mehr da sind oder sich ändern. Werden wir hingegen mit unserer eigenen Endlichkeit konfrontiert (Atomkraftwerk), bringt uns das wieder näher zu unserem wahren Selbst. Im Yoga-Sutra 2.6 erfahren wir dazu:
„Drashta und Chitta, d.h. das unsterbliche und sehende [Anm. das wahre Selbst] mit dem sterblichen und meinenden Selbst zu verwechseln, ist Asmita [Anm. das Ego].“
(Übersetzung: Sriram)
Du kennst vielleicht Sätze wie „Glaube nicht alles, was du denkst.“ oder „Du bist nicht deine Gedanken.“ Sie zielen darauf ab, den Irrtum aufzudecken, dass unsere Persönlichkeit sich aus den gedanklichen Anhaftungen unseres Ego-Orbits konstruiert. Üblicherweise unterliegen wir diesem Irrtum etwa bei der Frage, wer wir sind. Wir antworten: „Eine Mutter, Ehefrau und Wissenschaftlerin“, oder: „Ein Mann, eine Führungskraft und ein ACDC-Fan“. Das sind alles Rollenzuschreibungen aus dem Ego-Orbit, die keine Aussagekraft darüber haben, wer wir wirklich sind. Das Ego mag uns als Teil des Geistes ein nützliches Instrument sein, das wir für unsere Durchsetzungskraft sinnvoll einsetzen können, aber unser wahres Selbst liegt jenseits davon.
Die kriegerischen Anteile des Egos
Immanuel Kant sagte:
„Jeder Mensch verfolgt seine egoistischen Zwecke, die denen der anderen zuwiderlaufen: Selbst sein soziales Wesen („die Geselligkeit“) vermischt sich mit antisozialen („ungeselligen“) Zwecken, weil er sich von der Vereinigung mit anderen Menschen wieder nur Vorteile für seine eigenen Zwecke verspricht.“
Kant mag es anders benennen, aber der antisoziale Anteil in uns ist das kriegerische Element des Egos, das seine Besitztümer verteidigt und dessen Freiheiten ständig durch andere Menschen bedroht werden. Antisozial und egogetrieben werden wir, wenn unsere persönlichen Interessen sich mit denen anderer Menschen überschneiden. Diese Interessen könnten beispielsweise Familie, Karriere, Freunde, Autos oder Einhörner sein. Das entscheidet jeder individuell aufgrund von Konditionierungen und Lebenserfahrungen. Je bedeutsamer eine Sache für uns ist, desto näher rückt sie ins Zentrum des Ego-Orbits. Je näher eine Sache diesem Zentrum kommt, desto verletzlicher werden wir, was unter Umständen zu Konflikten und auch zu Kriegen führen kann. Wer Krieg sucht, muss also weder in die Ferne schweifen noch Nachrichten schauen. Der Schauplatz der Bhagavad-Gita ist ein Schlachtfeld, weil wir jeden Tag auf einem solchen stehen, wenn wir uns im Sog des Egos befinden. Wir gehen in Gefechtsstellung gegen Menschen, die eine Bedrohung unseres Ego-Orbits darstellen, wenn wir damit identifiziert sind. Unser Ego will die uns wichtigen Dinge gerne beschützen. Das ist zwar nett gemeint, aber innere Kriege können wir erst dann auflösen, wenn uns bewusst wird, dass kein Einhorn dieser Welt uns Sicherheit geben kann.
Betrachten wir einen militärischen Krieg, so ist es eindeutig unserem Ego-Orbit geschuldet, dass uns ein Krieg nahe den Grenzen unseres eigenen Lebensortes mehr verunsichert als ein Krieg auf einem anderen Kontinent. Die Dramatik ergibt sich erst anhand unserer persönlichen Ego-Interessen.
Frieden mit dem Ego schließen
Der Weg zum Frieden führt nun nicht unbedingt dahin, dass nichts auf der Welt uns mehr etwas bedeuten soll. Es muss uns dabei nur bewusst sein, dass wir durch den permanenten Wandel der Dinge verletzbarer werden, je mehr uns eine Sache bedeutet. Im Yoga-Sutra 2.15 heißt es:
„Dukha (das Leiden) wird ausgelöst durch die Vergänglichkeit, der alles Wahrnehmbare unterliegt, durch die Sehnsucht nach etwas, durch die Abhängigkeit von etwas, oder auch einfach durch Konflikte, die innerhalb von uns liegen. Dem empfindsamen Menschen ist die Allgegenwärtigkeit von Leid bewusst.“
(Übersetzung: Sriram)
Das Schöne ist: Löst man sich von diesen falschen Vorstellungen der Ewigkeit, gibt es gar nichts zu verlieren, weil sie nur in unseren Köpfen existieren und der Wirklichkeit fern sind.
Wir können im Alltag gar nicht vermeiden, in den Widerspruch zu anderen Ego-Orbits zu geraten, wenn wir Sozialkontakte haben. So kann es passieren, dass jemand sich für einen von uns geliebten Menschen interessiert, den gleichen Schritt auf der Karriereleiter anstrebt oder auch nur gerne die letzte Tomate im Supermarkt hätte. Laut Kant hat sich die Natur etwas dabei gedacht. Er ist überzeugt, dass die Kombination von Geselligkeit und Ungeselligkeit den historischen Fortschritt antreibt. Hierin finden wir auch den Ausweg vom Schlachtfeld.
Statt in den Kampfmodus zu gehen und andere Menschen offensichtlich oder subtil zu bekämpfen, bei denen es zu Ego-Orbit-Kollisionen kommt, geht es darum, am Konflikt zu wachsen. Der Boxer Mike Tyson meinte in einem Interview, das Teuflische gewinne am Ende immer, denn selbst wenn wir uns davon distanzieren, verändern wir uns dadurch und werden zu dem, was wir sind.
Wenn wir mit anderen friedlich nebeneinander existieren wollen, dann müssen wir aufhören, uns so wichtig zu nehmen. Dafür müssen wir ab und zu aus „meinem Herzschmerz“ „einen Herzschmerz“ werden lassen. Dazu benötigen wir, mit dem Yoga-Sutra gesprochen, einen ruhigen Geist. Aus dem stürmischen Ego heraus setzen wir Waffen ein, die andere verletzen. Aus der Liebe als Essenz des wahren Selbst weitet sich unsere Perspektive, und wir entdecken, dass es uns langfristig nur gutgehen kann, wenn es den anderen auch gutgeht.
„Das Ego ist ein Eisberg. Lass ihn dahinschmelzen in tiefer Liebe, so dass er sich auflöst und du eins wirst mit dem Ozean“.
– Osho
Osho glaubt, es kann nur eines geben: den globalen Selbstmord oder eine spirituelle Revolution. Du kannst dich jeden Tag aufs Neue entscheiden, wofür du lieber einstehen möchtest. Letztlich entscheidest du, welches Zentrum du stärkst – dein wahres Selbst oder dein Ego-Zentrum –, und das macht dich zu einem sehr machtvollen Wesen auf dem Weg zu mehr Frieden. Der Tod zeigt uns letztlich, wonach wir im Herzen streben, denn kein Mensch ist je mit geschlossenen Fäusten gestorben.