Die tibetische Praxis „Chöd“ als Technik zur Konfliktlösung.
„Die bösen männlichen und weiblichen Dämonen, die eine Unzahl von Plagen und Behinderungen hervorrufen, erscheinen real, ehe man Erleuchtung erlangt hat. Aber wenn man ihr wahres Wesen erkennt, werden sie zu Beschützern, und mit ihrem Beistand und ihrer Hilfe erlangt man zahllose Verdienste.“
Milarepa (vermutlich um 1040–1135)
Als die buddhistische Lehrerin Tsültrim Allione sich vor vielen Jahren von ihrem italienischen Mann trennte, gerieten die Scheidungsformalitäten in eine Sackgasse. Tsültrim wollte mit dem gemeinsamen Sohn in ihr Geburtsland Amerika zurückkehren, um sich dort ein neues Leben aufzubauen. Jedoch durfte ihr Sohn das Land nicht mit ihr verlassen, wenn sein Vater es nicht erlaubte, und dieser wollte natürlich, dass das Kind in Italien blieb. Die Situation wurde so extrem, dass die beiden Ex-Partner schon vor Gericht ziehen wollten.
Da erinnerte sich Tsültrim an die alte buddhistische Praxis Chöd, die sie einst im indischen Manali von einem tibetischen Rinpoche gelernt hatte. In dieser spirituellen Übung verwandelt man seinen Körper in imaginären Nektar und nährt damit alle Wesen. Dieser Nektar wird voller Mitgefühl allerlei Gästen angeboten, darunter auch den Personifizierungen der eigenen Dämonen, wie etwa Wut oder Angst. Dies führt dazu, dass diese „Dämonen“, wenn sie mitfühlend gesehen und genährt werden, oft verschwinden oder gar zu Verbündeten werden.
Tsültrim entschied sich, die Chöd-Praxis durchzuführen und sich dabei geistig auf die vertrackte Situation mit ihrem Mann zu konzentrieren. Als dieser in der Übung dann vor ihrem inneren Auge erschien, stellte sie sich vor, wie ihr Körper zu einem Nektar der Liebe und Anerkennung zerfloss, und bot ihm an, so viel davon zu trinken, wie er wollte. Durch diese Opferung verflog ihre Wut auf ihn, und auch das Verlangen, mit dem gemeinsamen Sohn möglichst weit von ihm fortzugehen, nahm ab. Stattdessen brachte sie ihm voller Mitgefühl dieses Elixier dar. Gleichzeitig fütterte sie auch ihren personifizierten Angstdämon, bis beide satt waren. Danach fühlte sie sich befreit und ging so friedvoll und entspannt zu Bett wie seit Langem nicht mehr.
Am nächsten Tag geschah das schier Unfassbare: Ihr Mann rief sie an und fragte, ob sie miteinander sprechen könnten. Im darauffolgenden Treffen sagte er, dass sich am gestrigen Abend etwas bei ihm verändert habe. Er sei zu […]