Heilsame Ernüchterung auf einer Indienreise
Im März 2004 fuhren wir nach Indien, um das Geburtsland des Yoga zu besuchen. Beide von uns waren immer wieder von wunderschönen Fotografien indischer Yogis beeindruckt gewesen und wünschten uns, dort einem indischen Yogalehrer zu begegnen. Auch hatten wir bestimmte Idealvorstellungen von einem solchen Guru entwickelt, die durch viele Berichte und Legenden gespeist worden waren: großgewachsen, braungebrannt mit muskulösem Körper, charismatische Gesichtszüge und Augen, die einen durchdringen und in die Tiefen unserer Seelen schauen können.
Nachdem wir aus dem verschmutzten Neu Delhi, eine der dreckigsten Städte der Welt, in Jaipur angekommen waren, fanden wir dort direkt neben unserem Hotel eine Yogaschule, auf die wir durch ein riesiges Plakat aufmerksam geworden waren. Die Luft in Jaipur ist nur unwesentlich besser als die in Neu Delhi, ihre Luftwerte liegen sieben Mal über den Werten, die die WHO noch für zulässig hält. Trotzdem wollten wir uns nicht davon abhalten lassen, unter der Aufsicht eines gutes Yogalehrers Atem- und Körperübungen zu machen.
Am nächsten Morgen gingen wir um sechs Uhr noch müde und unausgeschlafen zur Yogaschule, die unweit von dem riesigen Plakat in einem alten und heruntergekommenem Schulgebäude untergebracht war. Wir waren offensichtlich die ersten Schüler und warteten gespannt auf den Yogalehrer. Kurze Zeit später tauchte eine mollige Frau in einem leicht schmuddeligem Sari auf. Aus einer alten Holzkiste, die auf der Veranda des Schulhauses stand, holte sie eine alte, fleckige und staubüberzogene Decke heraus, die sie als Unterlage für die Übungen verwenden wollte. Sie wies uns an, es ihr gleichzutun. Mit viel Widerwillen und einem leichten Gefühl des Ekels zogen wir zwei ebenso verfleckte und verstaubte Decken aus der Kiste. Die Frau breitete ihre Decke aus. Nachdem eine weitere Inderin eingetroffen war, begannen beide mit Atemübungen, ohne uns weiter zu beachten. Sie machten wenige kurze Atemübungen und begannen dann mit einigen Dehnübungen. Währenddessen unterhielten sie sich. Anstelle von Yogis, die sich in ihre Übung hineingeben, wirkten sie auf uns eher wie schnatternde Gänse. Und wir standen da – mehr als Beobachter denn als Teilnehmer – und betrachteten die Szenerie teils mit Verblüffung und teils mit Argwohn. Beide verspürten wir bei der schlechten Luft weder den Drang tief und bewusst ein- und auszuatmen noch uns auf die ungepflegte […]