Einsamkeit macht Menschen krank. Doch wenn wir erkennen, dass wir immer Zugang zu einer tieferen Verbundenheit haben, dann heben wir den Schatz, der im Alleinsein verborgen ist.
Während wir auf Facebook immer mehr „Freunde“ sammeln, werden wir in der Realität immer einsamer: 2014 ergab eine Studie, dass in Deutschland die Zahl der Menschen, die unter dem Alleinsein leiden, gewachsen ist. Fühlten sich 1993 noch 50 % der Befragten nicht einsam, waren es nun nur noch etwas mehr als 30 %. Unser Lebensstil lässt soziale Strukturen bröckeln und fördert die Vereinzelung. Es reicht nicht, in den sozialen Medien aktiv zu sein – ganz im Gegenteil: Studien zeigen, dass einsame Menschen besonders häufig auf Facebook sind.
Einsamkeit macht krank
Die Auswirkungen sind drastischer, als man denken würde: Es ist nicht nur unangenehm, sich einsam zu fühlen, sondern auch ungesund. Als soziales Wesen brauchen wir die Verbundenheit mit anderen wie die Luft zum Atmen. Es ist also kein Wunder, dass es inzwischen eine Reihe von wissenschaftlichen Untersuchungen gibt, die zeigen, dass Einsamkeit in engem Zusammenhang mit Suchterkrankungen, Stresserleben, Schlaflosigkeit, Immunschwäche und Herz-Kreislauf-Erkrankungen steht. Dass unser Körper und unsere Seele Alarmsignale senden, wenn wir unter einem Mangel an Kontakt leiden, ist leicht zu erklären: Seit jeher leben Menschen im Verbund mit anderen. Wir brauchen es, uns zugehörig, gesehen und akzeptiert zu fühlen. Aus der Gemeinschaft der Sippe ausgestoßen zu werden, bedeutete in Urzeiten oft den Tod. Auch heute noch wird bei Einsamkeit in unserem Gehirn jener Bereich aktiv, der auch bei körperlichen Schmerzen anspringt. Das schmerzliche Gefühl, das sich in unserem Herzen ausbreitet, ist ein ernstzunehmendes Warnsignal.
Dennoch ist es unvermeidlich, dass wir Zeiten der Einsamkeit erleben. Es ist eine Erfahrung, die jeder einmal macht – z.B. nach einem Verlust oder nach Veränderungen, wie einem Umzug oder einer Kündigung. Zudem gehört es zum Menschsein dazu, mit einer existenziellen Einsamkeit in Kontakt zu kommen. Auch darin gründet unsere Sehnsucht nach Spiritualität und dem Eingebettetsein in ein größeres Ganzes.
Um die Einsamkeit nicht fühlen zu müssen, fliehen viele sofort in die nächste Beziehung, vor den Fernseher oder den Laptop, in die Arbeits-, Kauf- oder Alkoholsucht. Leider ist keine dieser Strategien wirklich sinnvoll. Wie so oft, führt der heilsame Weg mitten durch die unangenehme Emotion hindurch.
Qualität, nicht Quantität zählt
Wenn wir Einsamkeit empfinden, dann hat das aber manchmal wenig damit zu tun, ob wir allein sind oder nicht. Jeder kennt das Gefühl, sich in Gesellschaft einsam zu fühlen. Der bekannteste Einsamkeitsforscher der Welt, John Cacioppo, ist überzeugt, dass nicht die Zahl der Menschen, die wir kennen, darüber entscheidet, wie wir uns fühlen, sondern, ob wir uns von anderen gesehen, anerkannt und gebraucht fühlen.
Darüber hinaus spielt unsere Interpretation des Alleinseins eine wichtige Rolle. Nicht jeder fühlt sich unter den gleichen Umständen einsam. Wer einen Sonntag allein zuhause als willkommene Auszeit betrachtet, leidet nicht unter diesem Zustand. Wer neidisch auf Paare und Familien schielt und das eigene Alleinsein als eine Art Makel empfindet, der wird sich isoliert fühlen.
Alle anderen sind doch glücklich?
Unsere Gesellschaft fördert den Vergleich mit anderen. Zudem gilt die Devise: Jeder ist seines Glückes Schmied. Wer nicht glücklich, erfolgreich, schlank, gesund ist, der hat sich noch nicht ausreichend selbst optimiert. Wer es nicht „hinkriegt“, das Single-Dasein zu beenden oder einen großen Freundeskreis um sich zu scharen, hat versagt.
Wenn wir glauben, dass alles machbar ist – dann denken wir auch, dass wir schuld sind, wenn wir alleine sind. Und schon quält uns unser innerer Kritiker mit Urteilen wie „Du bist beziehungsunfähig / zu laut / zu langweilig“ oder „Du bist nicht attraktiv / charmant / erfolgreich genug“. Dabei vergessen wir gern, dass das Gras auf der anderen Seite gar nicht immer grüner ist und kaum jemand ein Foto von sich auf Instagram mit dem Kommentar postet: „Heute eher einsam gefühlt.“
Die Wurzeln dafür, wie wir mit Alleinsein umgehen, liegen in unserer Kindheit. Waren wir Teil einer liebevollen Familie oder haben wir uns ausgeschlossen, überfordert oder nicht gesehen gefühlt? Haben wir die Erfahrung gemacht, dass wir liebenswert sind –
auch wenn wir Fehler machen – und anderen vertrauen können? Dass wir Alleinsein genießen können, weil wir uns dennoch mit anderen verbunden fühlen? Diese Erfahrungen bestimmen unsere Sichtweise und damit auch unsere Erwartungen und unser Verhalten anderen gegenüber.
Beziehungsvermeider und Klammeräffchen
Janett Menzel, Schreibtherapeutin, Bloggerin und Autorin eines Buches über Einsamkeit, hat beobachtet, dass Menschen, die in ihrer Kindheit keine verlässlichen, nährenden Beziehungen erlebt haben, als Erwachsene auf zwei Arten reagieren: „Ein Teil dieser Menschen vermeidet Beziehungen – nach dem Motto: Ich bin so verletzt worden, ich gehe jetzt freiwillig in die Isolation, um mich zu schützen. Manche schlagen ins andere Extrem um: Sie machen sich total abhängig von Beziehungen, passen sich übermäßig an und verlassen sich dabei selbst. Einsamkeit erleben beide.“
Vor allem Menschen, die das Alleinsein vermeiden, geraten in emotionale Not, wenn sie dann einmal – vielleicht durch eine Trennung oder Krankheit – auf sich selbst zurückgeworfen werden. „Diese Menschen haben einen Mangel an ‚Eigendrehung‘ – wie es der bekannte Psychoanalytiker Fritz Riemann in seinem Buch Grundformen der Angst ausdrückt“, erklärt Janett Menzel. „Wenn du nicht gelernt hast, dich selbst glücklich zu machen, dann bist du auf andere angewiesen und kommst in Schwierigkeiten, wenn du doch einmal allein bist.“ Um die Einsamkeit nicht fühlen zu müssen, fliehen viele sofort in die nächste Beziehung, vor den Fernseher oder den Laptop, in die Arbeits-, Kauf- oder Alkoholsucht. Leider ist keine dieser Strategien wirklich sinnvoll. Wie so oft, führt der heilsame Weg mitten durch die unangenehme Emotion hindurch.
Auf dem spirituellen Weg finden wir – im besten Fall – auch echte Hilfe und Heilung für unsere Einsamkeit. Gerade im Yoga oder in der Meditation kommen wir früher oder später mit dem All-Eins-Sein in Kontakt.
Die Chance des Alleinseins
Wer sich der Frage stellt: „Wozu bin ich allein?“, dem bietet diese Lebensphase eine Chance zu Wachstum und Reifung. Er kann die Erfahrung machen, dass er durch unangenehme Gefühle hindurchgehen kann, ohne überwältigt zu werden. Er kann den Schatz entdecken, der in dieser Herausforderung liegt. Zeiten des Alleinseins dienen dazu, mit sich selbst in Kontakt zu kommen, sich zu fragen: „Wer bin ich?“, „Was verleiht meinem Leben Sinn?“, „Wovon möchte ich mehr /
weniger?“, „Wo stehe ich auf meinem Lebensweg, und wo will ich noch hin?“ Er kann lernen, sich selbst genug und ein guter Freund zu sein. Sich selbst wertzuschätzen – auch wenn keine Anerkennung von außen kommt.
Zudem gilt es, eine realistische Perspektive auf das Leben der anderen einzunehmen: Nicht jeder, der einen Partner hat, ist frei von Einsamkeit. Nicht jede Familie ist ein Ort der Geborgenheit. Jede Situation hat ihre guten und ihre schwierigen Seiten. Jeder Mensch muss sich Herausforderungen und Problemen stellen.
All-Eins-Sein erleben
Gerade wenn wir uns den spirituellen Traditionen zuwenden, dann können wir Zeiten des Alleinseins eine neue Bedeutung geben und den Schatz, der darin liegt, erkennen. Seit jeher haben Suchende sich in Höhlen, Einsiedeleien und Klöster zurückgezogen, um sich für spirituelle Erfahrungen zu öffnen. Wenn wir uns nicht um alltägliche Dinge und um Bedürfnisse der anderen kümmern müssen, sind wir frei, uns den wesentlichen Fragen des Lebens zuzuwenden. Immer mehr Menschen fühlen in sich eine Sehnsucht nach einer Auszeit, z.B. in Form eines Retreats oder einer Pilgerreise. Auch wenn wir dabei häufig nicht allein sind, kann uns die Stille in einem Schweigeretreat oder das Gehen über weite Strecken doch mit dem Thema Einsamkeit konfrontieren, wenn wir uns bisher gern mit Geschäftigkeit und Kontakten davon abgelenkt haben.
Auf dem spirituellen Weg finden wir – im besten Fall – auch echte Hilfe und Heilung für unsere Einsamkeit. Gerade im Yoga oder in der Meditation kommen wir früher oder später mit dem All-Eins-Sein in Kontakt. Schon das Wort „Yoga“ verweist darauf, dass es hier um Verbindung geht: Es wird hergeleitet von yuj – „anjochen, zusammenbinden“ (Sanskrit). Wenn wir Yoga in seinem ursprünglichen Sinn praktizieren, dann erfahren wir Verbundenheit mit etwas, das größer ist als wir selbst, in dem wir stets geborgen sind. Wir spüren die Verbindung mit dem göttlichen Funken in uns, unserem Höheren Selbst. Wir wissen, dass wir ein untrennbarer Teil der „Familie der Dinge“ (Mary Oliver) sind. n
Zum Weiterlesen:
Janett Menzel: Über die Kunst, allein zu sein – Wie man Einsamkeit und Angst vor dem Alleinsein überwindet und sich nebenbei neu lieben lernt, via Amazon und als E-Book erhältlich (Link siehe Autoreninfo)
Ursula Wagner: Die Kunst des Alleinseins, Theseus Verlag 2011
Expertin:
Janett Menzel lebt in Berlin und arbeitet als freie Autorin und Journalistin. Auf ihrem Blog befasst sie sich vor allem mit der Frage, wie Menschen ihre Angst und Einsamkeit überwinden können.
www.ich-habe-auch-angst.de