Die westliche Psychotherapie stellt die Stärkung des „Ichs“ in den Vordergrund, östliche spirituelle Traditionen vertreten den diametral entgegengesetzten Ansatz: die Überwindung des Egos. Wie wäre es mit dem Weg der Mitte, um das Bindeglied zwischen Ich und Egolosigkeit erstrahlen zu lassen: die Individualität!
Vor einigen Jahren interviewte ich für YOGA AKTUELL spirituelle Lehrer aus der Satsang-Szene. Nachdem bereits einige Interviews veröffentlicht waren, erhielt ich eine Anfrage von einem damals in der Szene sehr populären Lehrer, der es sich auch auf die Fahnen geschrieben hatte, das Ego seiner Schüler zu brechen. Er bat mich um ein Interview für seine eigene Website. Kurz darauf trafen wir uns. Am Ende des Interviews schaute er mir bestimmend in die Augen. „Ich will mit diesem Interview in die YOGA AKTUELL!“, sagte er und stampfte dabei wie ein kleines Kind mit dem Fuß laut auf den Boden. Ich war erstaunt über eine solche Äußerung aus dem Mund eines „egolosen Erwachten“, wie er sich noch wenige Minuten zuvor selbst bezeichnet hatte. Später erhielt ich von seiner Sekretärin eine E-Mail. Sie wollte mich nochmals daran erinnern, dass der Lehrer unser Interview nun doch nicht auf seiner Website haben wolle, es aber für den Abdruck im Magazin geeignet fände.
Einen gesunden Weg gehen
An diese Episode erinnere ich mich oft, denn sie zeigte mir doch allzu deutlich, wie sehr wir Menschen an unserem Ich hängen – und zwar selbst solche Menschen, die glauben, ihr Ego überwunden zu haben, und auch jene, die als spirituelle Lehrer auf dem Weg sind und sogar andere dabei unterstützen möchten, das Ego zu überwinden. Tatsächlich kommt es mir so vor, als würden wir Menschen, die wir uns auf dem spirituellen Weg befinden, in einem Spannungsfeld leben, in dem wir unser Ich brauchen, um uns im Miteinander mit anderen nicht vollkommen be- und ausnutzen zu lassen, und gleichzeitig den Wunsch hegen, das Ego vollkommen zu überwinden.
Als mir kürzlich das Buch „Buddhismus und Psychotherapie“ des amerikanischen Therapeuten John Welwood in die Hände fiel, freute ich mich über die differenzierte Auseinandersetzung mit dem Thema Ich und Egolosigkeit.
Welwood beschäftigt sich mit dem Ziel der westlichen Psychotherapie – der Stärkung des Ichs – und dem Ziel der spirituellen Traditionen des Ostens – der Überwindung des Egos. Welwood […]