Wir leben aktuell in einer Zeitqualität, die als »hochdynamisch« bezeichnet wird. Ja, wir leben in einer Welt, die sich immer schneller verändert, oft so schnell, dass in uns das Gefühl entsteht, gar nicht mehr richtig mitzukommen und sich in angemessener Weise anpassen zu können – denken wir nur an die sprunghafte Entwicklung rund um das Corona-Virus.
Der Strom des Lebens
Das Leben ist aber immer wie ein Strom. Es wandelt sich ohne Unterlass – niemals hält es inne, niemals steht es still… Wir Menschen sind wie die Steine und Kiesel am Grunde dieses Stromes. In unserem Alltag bekommen wir oft gar nicht mit, wie stark die Strömung des Lebens ist und wo sie uns hintreiben möchte – bis eine starke Welle uns aus dem gewohnten Grund reißt und uns, ob wir wollen oder nicht, in den Wandel zwingt.
Wir wissen dann meist gar nicht »was uns geschieht« und finden uns plötzlich in einer veränderten Wirklichkeit wieder, mit der wir nun irgendwie zurechtkommen müssen. Das lockt eine unserer stärksten inneren Kräfte auf den Plan: die Angst – im Yoga Abhinivesha genannt. Sie geht immer einher mit tiefsitzender Unsicherheit, dem Gefühl der Orientierungslosigkeit und Hilflosigkeit.
Diese Erfahrungen wiederum rufen die anderen inneren Störkräfte – die Kleshas – hervor, vor allem das Vermeiden und das Begehren. Und so beginnen wir alles zu meiden, was uns gefährlich erscheint und suchen alles, was uns Sicherheit zu versprechen scheint. Wir fürchten um unsere Unversehrtheit, und tragen Schutzmasken und machen Hamsterkäufe.
Yoga kennt dieses Problem seit Tausenden von Jahren, denn im unaufhörlichen Strom des Lebens gab es immer Phasen, in denen der Strom plötzlich reißend und unkontrollierbar wurde oder sich auch plötzlich in ein beängstigendes Rinnsal wandelte. Yoga rät uns deshalb zu erkennen, dass wir nichts dagegen tun können, dass der Strom des Lebens uns seine Dynamik aufzwingt. Aber in dieser Dynamik können wir lernen, uns innerlich mit der Ruhe der Kiesel und Steine im Flussbett zu verbinden.
Was bedeutet das?
Es bedeutet, zu erkennen, dass auch in der größten Dynamik jeder Stein und jeder Kiesel mal wieder zurück auf den Grund sinken muss. Dadurch entstehen Innehalten und Momente der Ruhe, die wir nutzen können, um uns neu zu orientieren und zu reflektieren, wie wir uns sinnvoll den gegebenen Veränderungen anpassen können. Wir können lernen, selbst dann, wenn der Strom uns wieder mit sich reißt, den nächsten möglichen Ruhepol im Flussbett bewusst anzusteuern. Dadurch können wir einüben, Ruhe und zunehmend sogar Gelassenheit zu bewahren- indem wir in uns ruhig bleiben.
Das klingt gut, aber wie soll das möglich sein? Welche hilfreichen Konzepte stellt uns Yoga dafür zur Verfügung?
Yoga sagt, dass jeder Mensch wie der Kiesel oder Stein in sich etwas hat, was immer Bestand hat – etwas, das nicht so leicht und schnell zu stören oder gar zu zerstören ist. Es ist unser innerer Ruhepol, es ist das in uns, was immer mit der Intelligenz des Lebens verbunden ist, das Unzerstörbare. Es wird im Yoga das SELBST genannt.
Yoga sagt, dass das Selbst immer bei sich bleibt – wie der Kern des Kiesels oder des Steins im Strom des Lebens. Das Selbst trägt in sich die zentrierende Kraft der Ruhe. Das Selbst hat so etwas wie eine eigene Schwerkraft. Deshalb kann es sich überall niederlassen, kann überall ankommen und überall SEIN.
Wenn wir uns dieser Kraft in uns öffnen, können wir lernen, uns immer wieder selbst zu beruhigen und damit den enormen Triebkräften von Unsicherheit, Angst und sogar Panik etwas entgegensetzen. Und das ist wichtig, denn wir brauchen Ruhe, um alles bedenken und uns selbst in unserem Fühlen, Denken und Handeln reflektieren zu können. Wir brauchen innere Ruhe, um klar denken zu können und die geeigneten Handlungsoptionen abschätzen zu können. Wir brauchen Ruhe, um bei uns bleiben zu können – in uns selbst sicher aufgehoben und gegründet.
Ein Kiesel im Flussbett des Lebens
Sieh dich also wie einen Kiesel, wie einen Stein im Flussbett des Lebens. Entwickle deine ruhende, beharrende Kraft. Lass das Leben so strömen wie es strömen will – und vertraue darauf, dass selbst, wenn der Strom dich mit sich reißt, du immer wieder einen Platz im Flussbett finden wirst, in dem du dich niederlassen kannst – ganz bei dir – ganz mit dir. Sieh die vielen anderen Kiesel und Steine um dich herum. Teile mit ihnen deine Ruhe und dein Vertrauen. Und lass zu, dass das Leben dich bewegt und wandelt, während der Kern deines Selbst immer in sich ruht.