Was ist Sadhana? Bedeutung, Formen und Inspirationsquellen.
Im Yoga wird viel über Sadhana, die spirituelle Praxis, gesprochen. Klar ist, dass eine spirituelle Disziplin praktiziert wird, oder zumindest praktiziert werden sollte. Aber was ist Sadhana eigentlich genau? Was bewirkt sie, warum genau wird sie praktiziert, welche Arten der Sadhana gibt es, welche Praxis ist am besten für wen geeignet, was benötigt man für eine wirksame Praxis, wie weiß man, ob man Fortschritte macht, welche Gefahren birgt sie, braucht man dazu einen Lehrer, ersetzt sie die Konfrontation mit unseren psychologischen Problemen? Und wie fängt man überhaupt mit einer spirituellen Praxis an? Diese und viele andere Fragen werden wir in unserer neuen Reihe beleuchten.
Mach deine Sadhana, und alles, was du brauchst, wird zu dir kommen.
Sri Prem Baba
Sadhana: Eine Einführung
Das Sanskrit-Wort Sadhana stammt von der Wurzel sadh („ein Ziel erreichen, erfolgreich sein, etwas vollenden“) und meint eine spirituelle Disziplin. Oftmals ist das damit verbundene Ziel die Erleuchtung, unter anderem Moksha, Nirvana oder Satori genannt, oder die Verschmelzung mit Gott. Aus mystischer Sicht geht es bei der Sadhana immer nur um eines: die Gotteserfahrung und die damit verbundene Erfahrung der absoluten Liebe und Einheit.
Sadhana wird aber auch zu weniger erhabenen Zwecken ausgeübt, vielleicht um Siddhis, außergewöhnliche yogische Kräfte, zu erlangen, die z.B. zur Wunscherfüllung oder zur Macht verhelfen. Vielleicht möchte man aber auch einfach ruhiger und friedlicher werden. In Indien wird Sadhana auch oft zum Erreichen von materiellen Zielen wie Wohlstand, Fruchtbarkeit oder Eheglück praktiziert.
Sadhana wird in allen spirituellen Traditionen praktiziert, wenn auch in unterschiedlichen Formen. In der yogischen Tradition besteht sie u.a. aus Asanas, Pranayama, Meditation, Mantras und Ritualen, im Buddhismus wird viel meditiert und rezitiert, im Christentum und im Islam steht oft das Gebet im Vordergrund, wenngleich in deren mystischen Zweigen auch Mantras und Meditation praktiziert werden. Zudem gibt es in den verschiedenen Traditionen Rituale wie Feuerzeremonien oder andere Formen des Gottesdienstes.
Sadhana kann alleine oder in einer Gruppe ausgeübt werden. Oftmals beginnt der Aspirant, genannt Sadhaka, eine spirituelle Praxis unter Anleitung eines oder einer spirituell Lehrenden. Dieser Mensch ist idealerweise geistig fortgeschritten und kann seinen Schülern eine Praxis nahelegen, die für ihre Persönlichkeit und ihren Entwicklungsstand geeignet ist. Zudem kann ein guter Lehrer Blockaden und Schwächen im Schüler wahrnehmen und diese mit der passenden Praxis korrigieren.
Obwohl es in den unterschiedlichsten Traditionen viele Wege der spirituellen Praxis gibt, konzentrieren wir uns in dieser Reihe vorrangig auf die yogische Sadhana.
Verschiedene Formen der Yoga-Sadhana
Allein im Bereich Yoga gibt es viele unterschiedliche Praktiken, die den Aspiranten zum Ziel der Einheit oder zumindest des inneren Friedens führen können. Nicht jede Praxis ist für jeden Menschen geeignet. So wird zum Beispiel für eine emotionale Person eine herzenszentrierte Praxis wie Bhakti-Yoga empfohlen, die mit den Emotionen arbeitet und sie verfeinert, anstatt sie zu unterdrücken. Menschen, die von Natur aus eher intellektuell sind, fühlen sich oft mehr zu Jnana-Yoga-Praktiken wie dem Studieren von Schriften hingezogen.
Auch aus ayurvedischer Sicht ist Differenzierung sinnvoll, insbesondere in der Asana- und Pranayama-Praxis: Hier üben z.B. Personen mit einem Vata-Ungleichgewicht, die zur Unruhe und Nervosität neigen, eher langsame, beruhigende Yoga-Arten wie Yin-Yoga oder Restorative Yoga, während kapha-geprägte Menschen, die oft unter Trägheit leiden, von dynamischeren Praktiken wie Kapalabhati oder den Ashtanga-Yoga-Serien profitieren.
Der bekannte spirituelle Meister Swami Sivananda unterschied zwischen verschiedenen Formen der Yoga-Sadhana (vgl. www.sivanandaonline.org). Einige davon sind:
Karma-Yoga:In dieser Form von Sadhana geht es um das selbstlose Handeln. Indem er anderen ohne Erwartungen dient, wird das Herz des Sadhakas von negativem Karma gereinigt. Durch diese Praxis lernt man allmählich, die Illusion des Getrenntseins zu überwinden und Gott in allem zu dienen – denn essenziell sind alle Wesen eins. Es ist jedoch eine Sache, dies intellektuell zu wissen, und eine andere, es auch wirklich zu spüren bzw. zu erfahren. Karma-Yoga ist oft ein fester Bestandteil des Ashram-Lebens, bei dem man unentgeltlich für die Gemeinschaft kocht, putzt oder andere Aufgaben übernimmt. Karma-Yoga ist auch die Essenz der Bhagavad-Gita, einer der heiligsten Schriften Indiens. Bhakti-Yoga:In dieser Praxis geht es um Hingabe und die höchste, auf Gott ausgerichtete Liebe. Praktiken beinhalten Pujas (Verehrungszeremonien für eine Gottheit), Shravana (das Lesen oder Hören von Geschichten über Gott), Kirtan (das Singen von Mantras), Japa (das Rezitieren der göttlichen Namen), Smarana (sich an Gott erinnern oder beten) oder Yajnas (Gottesdienste, wie z.B. Feuerrituale). Im Bhakti-Yoga ist alles darauf ausgerichtet, unser Herz für das Göttliche – und daher für uns selbst und alle Wesen – zu öffnen. Diese Praxis gilt als der schnellste und einfachste Weg zur Selbstverwirklichung. Raja-Yoga:Raja-Yoga bedeutet „königlicher Weg“ und hat die Meisterschaft über den Geist zum Ziel. Diese Form der Yoga-Sadhana wird in Patanjalis Yogasutra beschrieben und besteht aus dem so genannten achtgliedrigen Pfad. Dazu gehören verschiedene ethische Verhaltensregeln wie die Yamas und Niyamas, sowie die Praktiken von Asana, Pranayama, Pratyahara (Rückzug der Sinne), Dharana (Konzentration), Dhyana (Meditation) und Samadhi, der Einheit mit dem Selbst. Durch die Übung dieser acht Glieder werden laut Swami Sivananda die Verunreinigungen des Geistes beseitigt, damit das Licht der Weisheit das Leben des Praktizierenden erhellen kann. Jnana-Yoga:Der Yoga des Wissens und der Erkenntnis. Diese Praxis beschäftigt sich unter anderem mit der Frage: „Wer bin ich?“ und besteht aus vier Stufen. Sie beinhalten Shravana, das Hören der Weisheit, vorzugsweise aus dem Mund eines verwirklichten Lehrers, Manana, Nachdenken und Kontemplation über das Gehörte oder Gelesene, Nididhyasana, die konstante, tiefe Meditation, auch im täglichen Leben, sowie Atma-Sakshatkara, die direkte Realisation, die aus den ersten drei Stufen hervorgeht. Hier erkennt der Praktizierende die Wahrheit bzw. sein oder ihr eigenes Selbst, und alle Fragen sowie jegliche Ignoranz verschwinden. Die Grundlage von Jnana-Yoga ist Vedanta, die Philosophie der Upanishaden. |
Des Weiteren gibt es noch andere Praktiken, wie z.B. Japa oder Mantra-Yoga-Sadhana, in denen sich die Sadhana hauptsächlich auf das intensive Rezitieren von spezifischen Mantras bezieht, Kriya-Sadhana, in der Reinigungsübungen wie Kapalabhati, die Lungenreinigung oder Neti, die Nasenreinigung, vollzogen werden; und auch das Gebet ist eine kraftvolle Form der Sadhana, in der die Praktizierenden Zwiesprache mit Gott halten.
Wie und wo beginnen?
In der Regel ist es so, dass eine Person sich zu einer bestimmten Sadhana hingezogen fühlt. Diese Affinität ist auch wichtig, damit man langfristig bei einer Praxis bleiben kann. Eine Praxis sollte mit der Persönlichkeit resonieren und Freude machen, so dass man auch dann weiterübt, wenn der erste Anfangszauber verflogen ist und sich eventuelle „Trockenperioden“ einstellen. Solcherlei Erfahrungen sind normal, genauso wie sich in menschlichen Beziehungen Verliebtheit, Langeweile und Zweifel immer wieder abwechseln, bis schließlich Liebe und Dauerhaftigkeit entstehen.
Welche Sadhana man auch ausübt, einer der wichtigsten Bestandteile einer erfüllenden Praxis ist die Aufrichtigkeit. Eine Frage, die man sich immer wieder stellen sollte, ist das Warum: Warum praktiziere ich? Was ist mein Ziel, was möchte ich erreichen? Möchte ich inneren Frieden erfahren? Will ich mein Herz öffnen und mehr Mitgefühl mit allen Wesen spüren? Möchte ich die göttliche, absolute Liebe erfahren? Oder möchte ich gar nichts und fühle mich einfach nur unerklärbar und unwiderruflich zu Gott und dem Weg der Mystik hingezogen wie die Motte zum Licht?
Unsere ehrliche Antwort auf diese Frage wird uns den Weg zu der für uns geeigneten Sadhana weisen. Und selbst wenn wir nicht wissen, wie und wo wir beginnen sollen – der tiefe, aufrichtige Wunsch in unserem Herzen wird uns genau dorthin führen, wo wir sein sollen. Türen werden sich öffnen, Zeichen werden erscheinen, Treffen mit gleichgesinnten Menschen werden stattfinden, und der für uns bestimmte Lehrer wird auftauchen, wenn wir für ihn oder sie bereit sind. Die alte Weisheit „Gehst du einen Schritt auf Gott zu, dann kommt Gott dir die restlichen Schritte entgegen“ wird sich bewahrheiten.
Welche Sadhana man auch ausübt, einer der wichtigsten Bestandteile einer erfüllenden Praxis ist die Aufrichtigkeit.
Große indische Meister und Meisterinnen
Die Beschäftigung mit inspirierenden Sadhakas und Yogameistern kann hilfreich sein, um ein Gefühl dafür zu bekommen, welche Art der Praxis für uns geeignet ist. Hier ist eine kleine Auswahl:
Sri Ramakrishna war ein indischer Heiliger, Mystiker und Verehrer Kalis (vgl. YOGA AKTUELL Nr. 124). In seinem Leben praktizierte er die unterschiedlichsten Sadhanas, so z.B. Tantra, Advaita-Vedanta und das Christentum, bis letztendlich jegliche Identifizierung von ihm abfiel und er die Einheit aller Pfade erkannte. Sri Anandamayi Ma, die „glückselige Mutter“, war eine der größten indischen Heiligen des 20. Jahrhunderts (vgl. YOGA AKTUELL Nr. 131). Sie durchlief den gesamten Sadhana-Prozess von selbst, bzw. er manifestierte sich durch sie. Ramana Maharshi war einer der bekanntesten Weisen Indiens. Er erlebte schon in jungen Jahren seine Erleuchtungserfahrung und verwies den Fragenden durch die Methode der Selbsterforschung und die Frage „Wer bin ich?“ immer wieder auf sich selbst. Swami Rama war ein großer Yogi des 20. Jahrhunderts. Er wuchs in der Obhut seines Meisters im Himalaya auf, praktizierte die unterschiedlichsten Sadhanas und gründete in späteren Jahren das Himalayan Institute in Amerika. Mata Amritanandamayi (Amma) begann ihre Sadhana schon im Alter von fünf Jahren und gelangte mit siebzehn Jahren zur Erleuchtung. Heute bereist sie die ganze Welt mit ihrer Botschaft der Liebe und des Mitgefühls. |
Die Biographien sowie die Lehren dieser Meister und Meisterinnen können uns auf dem spirituellen Weg inspirieren. Die Intensität ihrer Sadhana sollte uns jedoch nicht abschrecken. Es handelt sich hier um hochentwickelte Menschen, die schon von klein auf den intensiven Wunsch nach Gottesverwirklichung verspürten oder aber schon selbstverwirklicht auf die Welt kamen, um anderen zu helfen. Ihre Biographien können dennoch ein Feuer in uns entzünden und zeigen, was für uns alle möglich ist, wenn wir den spirituellen Weg aufrichtig und mit Hingabe gehen. Vielleicht erkennen wir durch ihre Geschichten, dass es Realitäten jenseits unserer limitierten materiellen Wahrnehmung gibt, und dass letztendlich nichts außer der Erkenntnis unseres Selbst wirklich wichtig ist.
Auch wenn wir noch am Anfang unseres Weges stehen, kann uns jeder noch so kleine Schritt eine Öffnung bescheren. Dieser Schritt kann aus der kurzen täglichen Praxis eines Mantras, einer Asana-Reihe, einer Meditation oder eines Gebets bestehen. Vielleicht weitet sich diese Praxis dann mit der Zeit immer mehr aus, wenn wir spüren, dass sie uns guttut und unsere Wahrnehmung sowie unser Wohlbefinden positiv beeinflusst. Wie schon der chinesische Mystiker Laotse einst sagte: „Eine Reise von tausend Meilen beginnt mit dem ersten Schritt.“
Im nächsten Heft:
Praktische Tipps für den Sadhana-Prozess. Was brauche ich für eine gute, wirksame Praxis?