Sich dem Thema Satya zu widmen, kann sehr unterstützend für unsere Praxis und unseren Weg sein.
Es gibt viele Übersetzungsmöglichkeiten – hier eine unvollständige Liste: aufrichtig, wahrhaftig, ehrlich, echt, wahr, authentisch. Interessant ist dabei für mich, dass es sich auch um eine Empfehlung für den Umgang mit uns selbst handelt. Wenn ich mich jedoch als Individuum, in meiner Subjektivität, mit der Wahrheit beschäftige – dann wandle ich stets auf sehr dünnem Eis.
Unser Blick auf die Welt ist höchstpersönlich
Vor ein paar Jahren saßen mir in der U-Bahn zwei Frauen gegenüber. Plötzlich sagte eine der Frauen: „Du kannst doch nicht von dir auf andere schließen!“ und ihre Gesprächspartnerin erwiderte daraufhin: „Was soll ich denn sonst machen?!“ Unser Blick auf uns, andere und die Welt, ist höchst persönlich.
Sehr treffend sagte die bekannte Zen-Lehrerin Joko Beck sinngemäß:
Das, was wir als unsere Persönlichkeit bezeichnen, ist nichts anderes als unser individueller Filter der Realität.
Die Empfehlung, das Lügen zu vermeiden bzw. in Übereinstimmung mit der Wahrheit zu leben, beruht auf verschiedenen Gründen. Diese Gründe sind von gesellschaftlicher und persönlicher Relevanz.
Menschen können einander nur in einer Atmosphäre gegenseitigen Vertrauens begegnen, wenn sie davon ausgehen können, dass ihr Gegenüber ehrlich ist. Das beginnt schon mit simplen Alltäglichkeiten. Wenn wir zum Beispiel nach dem Weg fragen, dann gehen wir davon aus, dass wir der Antwort vertrauen können.
Satya auf dem Meditationskissen
Wahrhaftig zu bleiben, unterstützt uns darin, ruhig, klar und offen zu werden. Auf diese Weise trägt uns die Praxis von Satya auch auf dem Meditationskissen. Wenn wir in Lügenkonstrukte verstrickt sind, haben wir stets die Mühe, dieses Konstrukt aufrecht zu erhalten. Jetzt wird es schon fast witzig: Wir fühlen uns gezwungen, erneut zu lügen, um unsere Glaubwürdigkeit zu verteidigen. Der Prozess wiederholt sich, bis er uns in einen Käfig von Unwahrheiten sperrt, aus dem es schwer ist, zu entkommen.
Die Wahrheit muss ich mir nicht merken! Gerade dieser Aspekt ist von großem Belang: Die Wahrheit ist beruhigend und befreiend. Es ist diese Ruhe, die der Meditation förderlich ist.
Satya mir selbst gegenüber
Nun mag das vielleicht eine schlüssige These sein und man entscheidet sich dafür, künftig bei der Wahrheit zu bleiben. Jedoch ist es oft eine besondere Herausforderung, Satya mir selbst gegenüber zu praktizieren.
Stell dir vor, du befindest dich allein in deinem Badezimmer. Du stehst mit freiem Oberkörper vor dem Spiegel. Wer von uns hat in dieser Situation nicht schon einmal den Bauch eingezogen? Du allein, mit dir, vor dem Spiegel – wem willst du da etwas vormachen? Das ist natürlich eine charmante Albernheit.
Die Frage lautet jedoch eher: Bin ich bereit, dem zu begegnen, was in der Meditation auftaucht? Bin ich also bereit, meinen Geschichten und damit auch in gewisser Weise mir zu begegnen? Nicht meiner Wunschvorstellung, meiner Idee von mir – sondern dem, was da wirklich auftaucht.
Spätestens an diesem Punkt wird uns bewusst, dass wirkliche Aufrichtigkeit uns selbst gegenüber Mut bedarf.
Wenn ich zum Beispiel meditiere und der Überzeugung bin, nicht meditieren zu können, weil sie in der Dienstbesprechung die Augenbraue hob oder weil er noch nicht auf meine E-Mail reagiert hat … dann habe ich es noch nicht ganz erfasst. Weder eine Augenbraue noch der aktuelle Stand meines E-Mail-Postfachs halten mich davon ab, zu meditieren. Nutze ich die Meditation als Spiegel, dann ist eben dieser Gedankeninhalt das Objekt meiner Meditation.
In diesem Augenblick der Wachheit verändert sich etwas. Eine Geschichte wird wieder zur Geschichte und wird nicht automatisch für wahr gehalten, nur weil sie in meinem Geist erzählt wird. Ich übe immer mit dem, was ist. Das ist die Grundlage der Übung.
Die Idee, ich, jemand oder etwas müsse anders sein, damit ich meditieren kann, ist nur schon wieder eine Geschichte und diese Geschichte wird, wie alle Geschichten, durch stetige Wiederholung nicht wahrer – aber meine Identifikation mit ihr stärker.
Ein ehrlicher Umgang mit mir hilft mir, mich so zu sehen wie ich bin, nicht, wie ich denke, sein zu müssen.
Auch wenn sie schon fast zum Schlager der weisen Fragen geworden ist, möchte ich sie jetzt doch stellen: Wer bin ich, wenn ich die Geschichten, die ich mir über mich selbst erzähle, nicht mehr glaube? Die Antwort ist immer da. Jetzt und hier.
Mehr Satya – auch auf der Yogamatte!
Ich unterrichte nicht nur Meditation, sondern auch Hatha-Yoga, und mache immer wieder eine Beobachtung: Übende befinden sich z.B. im Drehstitz, Ardha Matsyandrasana. Dabei gehen einige der Übenden so weit in die Rotation, dass es schmerzhaft wird. Der Atem stockt, die Zähne werden zusammengebissen, innerlich gebetet, dass es vorbei geht. Die Verlockung ist dann groß, zu sagen: „Diese Haltung tut mir weh!“ Aber ist das die Wahrheit?
Meine Antwort: Es ist nicht die Haltung, die einem Schmerzen bereitet, sondern die eigene Entscheidung, zu weit zu gehen. Man tut sich also selbst mit der Haltung weh. Warum gehen wir so weit, dass es uns Schmerzen bereitet? Weil der eigenen Erzählung geglaubt wird. Sehr beliebt sind hier Vorstellungen von „viel bringt viel“ oder „ich muss immer alles geben“. Es entspricht nicht der physischen Realität, der Körper sendet eine unmittelbar-ehrliche Reaktion und doch halten wir an Glaubenssätzen fest.
Unsere Geschichten können uns weh tun.
Wenn es die Übung des Sitzens in Stille nicht gäbe, dann müsste sie erfunden werden. Für mich gibt es nichts Vergleichbares. Unzählige Male habe ich auf dem Kissen meine Muster und Tendenzen (Samskaras) erkannt. Dieses Bewusstsein verändert meine Sicht und lockert meinen geistigen Griff.
In der Meditation begegne ich immer wieder mir selbst. Die Wahrheit ist nie verborgen. Mögen wir dem, was ist, mit Mut und Mitgefühl begegnen. |