Mit 12 Jahren kommt Arun Gandhi von Südafrika nach Indien, um an der Seite seines Großvaters Mahatma Gandhi in dessen Sevagram Ashram im indischen Bundesstaat Maharashtra zu leben und von ihm zu lernen. Schließlich wusste ihm dieser einige wichtige Weisheiten für sein Leben mitzugeben, die zeitlos und heute mehr denn je von Relevanz sind. In seinem Buch Wut ist ein Geschenk – Das Vermächtnis meines Großvaters Mahatma Gandhi versammelte Arun elf dieser Lektionen, die er mit Anekdoten aus der gemeinsamen Zeit mit dem Großvater ausschmückt.
Gandhis 11 Lektionen für ein gutes Leben
„Nutze deine Wut weise.
Lass sie dir helfen, den Weg der Liebe und Wahrheit zu finden.“ [1]
1 Wut ist ein Geschenk
Gandhi lernte schon früh, dass ungelenkte Wut uns nicht weiterbringt, sondern lediglich zu noch mehr Wut führt. Seine größte Waffe wurde daraufhin der friedliche Protest. Er übte sich darin, seiner Wut mit Ruhe und Gelassenheit zu begegnen und lernte schließlich, sie in etwas Positives umzuwandeln. So wie Gandhi, können wir alle lernen, unsere Wut in positive Bahnen zu lenken und sie in hilfreiche Energien umzuleiten.
Gandhis Ratschlag: Nutze deine Aggressionen bewusst, um Lösungen voller Mitgefühl, Liebe und Wahrheit zu finden.
„Wut ist für einen Menschen wie Benzin für ein Auto —
sie treibt einen an, damit man weiterkommt,
an einen besseren Ort. Ohne sie hätte man keinerlei
Motivation, sich einem Problem zu stellen.
Wut ist die Energie, die uns zwingt, zu definieren,
was gerecht ist und was ungerecht.“
2 Hab keine Angst, deine Stimme zu erheben
Mahatma Gandhi ist ein großartiges Beispiel für die Macht der Worte. Er sprach sich öffentlich gegen die Ungerechtigkeiten seiner Zeit aus und brachte sich selbst damit oft genug in ungemütliche Situationen. Allzu oft bevorzugen wir die eigene Komfortzone, anstatt die Wahrheit auszusprechen – oftmals, weil wir uns unsicher sind, was wirklich wahr ist. Doch auch das Gegenteil ist der Fall: Manchmal liegt uns mehr daran, unsere eigene Wahrheit lautstark zu verbreiten, anstatt sie einer genaueren Prüfung zu unterziehen, beziehungsweise, uns stattdessen mehr im Zuhören zu üben.
Gandhis Ratschlag: Sei bedacht in deiner Wortwahl und kommuniziere so gewaltfrei wie möglich. Unterziehe deine Aussagen vorab stets einer Prüfung: Werden diese Worte verletzen oder Gutes tun? Wenn du denkst, du förderst das Gute, dann sprich laut und deutlich. Finde deinen eigenen Weg, gegen die Ungerechtigkeit zu sprechen.
„Ein aus tiefster Überzeugung heraus gesprochenes Nein ist allemal besser, als ein Ja, das nur gemurmelt wurde, um zu gefallen, oder noch schlimmer, um Widerständen aus dem Weg zu gehen.“
3 Lerne die Einsamkeit schätzen
Wer nicht gut mit und zu sich ist, kann auch nicht gut mit und zu anderen sein. Oftmals nährt sich das Ego davon, wie beliebt, wie vernetzt und wie „erfolgreich“ wir im Außen sind. Doch wenn sich dahinter eine Leere versteckt, die wir mit anderen Menschen zu füllen versuchen, lohnt der Fokus nach innen. Schätze deine eigene Gesellschaft und lerne, auch alleine glücklich und zufrieden zu sein. Wir brauchen Input von außen: Indem wir mit der Welt und anderen Menschen kommunizieren und interagieren, erlangen wir Weitblick. Doch ebenso brauchen wir die Einsamkeit und den Rückzug, um die daraus gewonnenen Eindrücke integrieren und aufnehmen zu können.
Gandhis Ratschlag: Nimm Teil an der Welt und nimm all die Ideen auf, die dir darin begegnen. Doch anschließend zieh dich an einen ruhigen Ort mit dir alleine zurück und entscheide bewusst, wie du diese Ideen umsetzen möchtest, um die Welt damit ein Stück besser zu machen.
„Dein Geist sollte einem Zimmer mit vielen offenen Fenstern gleichen:
Lass die frische Briese von allen Seiten hereinwehen,
aber lass dich von keiner davon mittragen.“
4 Kenne deinen Wert
In Gandhis Augen waren alle Menschen gleichwertig und gleichzeitig jeder von ganz besonderem Wert. Für ihn gab es keine Klassen, kein Kastensystem – als Nationalist kämpfte er für die Rechte seines Volkes, und das mit Erfolg. Ob reich oder arm, jeder Mensch ist wertvoll. Am reichsten sind jedoch jene, die sich um diejenigen kümmern, die weniger haben, als sie selbst – ein schönes Gedankenkonstrukt für unsere Zeit: Ob dies nun auf Menschen zutrifft, die sich sozial engagieren, oder auf Firmen, die nachhaltig produzieren, ist einerlei.
Gandhis Ratschlag: Wir sollten unsere eigenen Talente und unser Glück mit der Welt teilen, damit jeder von jedem profitieren kann. Im Buch verdeutlicht Gandhi dies anhand einer Geschichte:
„Als im 17. Jh. ein Flüchtlingsboot mit persischen Zoroastrieren an der indischen Westküste anlegte und diese den König in einer Audienz um Zuflucht baten, lehnte dieser mit einer Allegorie ab, er zeigte auf ein volles Wasserglas und sagte: ‚Ebenso wie dieses Glas Wasser voll mit Wasser ist, ist mein Königreich voll mit Menschen. Wir haben keinen Platz, euch aufzunehmen.’ Daraufhin schüttet der Anführer der Flüchtlingsdelegation einen Löffel voll Zucker in das Wasserglas und rührt um: ‚Ebenso wie dieser Zucker sich im Wasser auflöst und es süßt, werden sich meine Leute unter diese Gemeinschaft mischen und ihr Süße verleihen.’“
5 Lügen sind Ballast
Jeder kennt das: Eine Notlüge hier und da, ein kleiner Schwindel, ein Detail verschweigen, einer Geschichte etwas mehr Glanz verleihen, … Wir wissen aus eigener Erfahrung, wie schwierig es ist, ganz ohne Lügen auszukommen. Als Eltern greifen wir in Sachen Erziehung oftmals zu kleinen Lügen: „Wir sind gleich da“, „Das tut nicht weh“, „Alles wird gut“, … Daran nehmen sich unsere Kinder ein Beispiel. Zu lügen erscheint uns im jeweiligen Augenblick oftmals als die einfachste Lösung für alle. Doch viele kleine Lügen ergeben eine große Lüge, und wenn wir andere belügen, belügen wir auch uns selbst. Würden wir uns von vorne weg an die Wahrheit halten, profitierten wir weit mehr davon, so Gandhis Auffassung. Das erfordert manchmal nicht nur Mut, sondern mitunter auch die Fähigkeit, unsere eigenen Wünsche anzuerkennen. Gandhi interessierte sich schon immer für die Wahrheit. Nicht umsonst trägt seine Autobiografie den Untertitel „Die Geschichte meiner Experimente mit der Wahrheit“. Im achtgliedrigen Yogapfad nach Patanjali steht die Wahrheit (satya) als Lebensprinzip an zweiter Stelle gleich nach ahimsa, dem Nicht-Verletzen.
Gandhis Ratschlag: Vermeide Lügen und halte dich an die Wahrheit, sie wird dein Leben zum Positiven verändern und vielleicht sogar dein Land.
„Sei du selbst die Veränderung, die du dir wünscht für diese Welt.“
6 Verschwendung ist Gewalt
Unser Zeitgeist ist geprägt von Verschwendung. Wir leben in einer Wegwerfkultur, einem unausweichlichen Nebenprodukt unserer Konsumgesellschaft. Ein Blick in die Müllcontainer der Supermärkte, auf die Müllhalden oder die Ozeane dieser Welt genügt, um uns unsere verschwenderische Lebensweise klar und deutlich vor Augen zu führen. Schon Gandhi war klar: „Unsere Gier und unsere verschwenderischen Gewohnheiten erhalten die Armut aufrecht und sind daher als Gewalt an der Menschheit anzusehen.“ Manchmal ist es verlockend zu denken, man sei bloß einer von knapp acht Milliarden Menschen auf der Welt und das eigene Handeln hätte keinen Einfluss auf die Gesamtsituation. Doch wir sind alle miteinander und mit allem um uns verwoben und jede noch so kleine Bemühung zählt.
„Verschwendung ist weit mehr als eine schlechte Angewohnheit. Sie zeigt eine Gleichgültigkeit gegenüber der Welt und drückt eine Gewalt gegen die Natur aus.“
7 Erziehe deine Kinder ohne Gewalt
Kinder lernen durch Imitation. Heute gibt es viele Erziehungsstile, mal liegt der eine im Trend, mal der andere. Der gewaltfreie Ansatz des Vorlebens ist ein zeitloser. Viele Eltern versuchen beispielsweise die Smartphone-Nutzung ihrer Kinder einzuschränken, reduzieren aber ihre eigene Zeit vor dem Handy nicht. Ebenso steht es um den Einsatz von Gewalt. Andere setzen den Erziehungsfokus darauf, ihrem Nachwuchs gute Werte und anständiges Verhalten weitergeben, doch was sind „gute Werte“? In herausfordernden und stressigen Situationen kann die Linie zwischen Disziplin und Gewalt verschwimmen. Ein tiefer Atemzug, eine kurze Auszeit und eine Rückbesinnung auf das eigene Verhalten können in solchen Situationen für Entspannung sorgen. Wer seinen Kindern mit gutem Beispiel vorausgeht, ihnen bedingungslose Liebe entgegenbringt und sie zumindest in den ersten Jahren an die erste Stelle stellt, ist laut Gandhi schon auf einem guten Weg.
Gandhis Ratschlag an Eltern: Mit gutem Beispiel vorangehen, anstatt die Imitation des eigenen Fehlverhaltens bei den Kindern zu bestrafen.
8 Demut ist Stärke
Ein großes Ego hält uns oftmals davon ab, anderen Menschen respektvoll und mitfühlend zu begegnen. In der Bescheidenheit und dem Anerkennen unserer eigenen Unwissenheit liegt in Gandhis Augen unsere größte Stärke. Meist ist es gar nicht so einfach, demütig und offen zu bleiben. Schon bei den kleinsten Entscheidungen legen wir Wert darauf, Recht zu behalten. Doch wahre Demut bezieht auch die Meinung von anderen offen in die eigene Entscheidung mit ein. Gandhi sah Bescheidenheit als Stärke an, Arroganz und Hochmut hingegen als schwache Charakterzüge. Da unsere Leben und Schicksale allesamt miteinander in Beziehung stehen, kann uns Demut dabei helfen, den wahren Wert unserer Unabhängigkeit zu erkennen.
„Niemand ist überflüssig oder unwichtig. Wir alle funktionieren im Einklang.“
9 Die fünf Säulen der Gewaltlosigkeit
Gandhis 5 Prinzipien der Gewaltlosigkeit stellen im Wesentlichen die Grundlagen jeder zivilisierten Gesellschaft dar:
- Respekt vor und für jeden – nur so kommt die Welt voran.
- Verständnis: Wenn wir uns gegenseitig respektieren und in Verständnis üben, gelangen wir automatisch zur dritten Säule, der Akzeptanz:
- Akzeptanz macht uns stärker und hilft uns, zu wachsen.
- Anerkennung hat eine sehr tiefe Resonanz und kann unser Leben grundlegend verändern.
- Mitgefühl bringt nicht nur mehr persönliches Glück mit sich, sondern auch mehr Harmonie in die Welt
„Steuere die Welt mit Liebe, nicht mit Angst“
10 Du wirst auf die Probe gestellt
Lebenstipps sind schön und gut. Wir versuchen sie in unser Leben zu integrieren, in der Hoffnung, dadurch noch bessere Menschen aus uns zu machen. Doch Theorie und Praxis sind oft gar nicht so einfach in Einklang zu bringen, schließlich stellt uns das Leben immer wieder vor Herausforderungen und große Schicksalsschläge, die Emotionen auf den Plan rufen und uns an der Sinnhaftigkeit oder Wirkung so mancher Lektionen zweifeln lassen. Doch gerade in solchen Augenblicken können wir uns Gandhis Weisheit ins Gedächtnis rufen. Denn gerade dann, wenn wir getestet werden, beweisen wir unsere Stärke am besten, indem wir unsere Taten zum Guten lenken und nicht, indem wir uns von Gewalt oder Wut steuern lassen.
„Vergebung entspricht dem Menschen mehr als Bestrafung“
11 Lektionen für das Heute
„Wäre Babuji heute hier, er würde wahrscheinlich sagen: Wacht auf und seht die Ungerechtigkeiten und Ungleichheiten in unserer Welt! Wir müssen Fanatismus und Ungerechtigkeit nicht hinnehmen, wir müssen sie auf allen Ebenen bekämpfen!“ Wenn wir etwas an unserer Welt ändern wollen, müssen wir uns auf positive Ansätze konzentrieren. Hass kann man schlichtweg nicht mit Hass bekämpfen, sondern nur mit Liebe.
„Politiker wissen die Wahrheit oftmals gekonnt zu verschleiern und ziehen das, was vorübergehend und unwichtig ist dem Dauerhaften und zutiefst Wichtigen vor.“
Eine Aussage, die heute wie damals zutrifft, wie beispielsweise ein Blick auf typische Wahlplakate und –Slogans bestätigt.
Mehr zu Arun Gandhi findest du unter www.arungandhi.net.
[1] Alle Zitate stammen im englischen Original aus Arun Gandhi: The Gift. Ten spiritual lessons for the modern world from my grandfatther, Mahatma Gandhi. Penguin Books, 2017.