Die Bedeutung von Formen und Strukturen für unsere Yogapraxis und unseren Alltag: Wie man eine vorgegebene Form als Tor zu Weite und Freiheit nutzt, und warum sie uns auf unserem Weg zu tiefem Wohlbefinden helfen kann, wenn wir aufhören, uns um jeden Preis in sie hineinzuzwängen
Meine Lieblingszeile im berühmten buddhistischen Herz-Sutra lautet: „Form ist Leere, Leere ist Form.“ Denn unsere Welt besteht aus einer unglaublichen Vielzahl von Formen in allen … Formen! Überall und auf allen Ebenen. Solange wir hier auf der Erde leben, können wir der Welt der Formen und Strukturen nicht entfliehen. Nun kann eine vorgegebene Struktur sehr hilfreich sein; umgekehrt kann die falsche Form, eine, die uns nicht passt, aber auch schaden und uns behindern. Die konkrete und reale Natur der meisten Formen verlockt zu einer konsequenten und starren Durchsetzung, in einer Weise, die uns „ideal“ erscheint. Ein witziges Beispiel dafür gibt es in der griechischen Mythologie: Prokrustes, der ein kleines Hotel führte, war so besessen von der Form und den Maßen seiner eisernen Betten, dass er von seinen Gästen erwartete, dass sie exakt hineinpassten. Um dies zu erreichen, schlich er sich nachts in die Zimmer und hackte zu lange Glieder ab oder streckte zu kurz geratene Schläfer, bis sie genau ins Bett passten. Viele Yogaschüler praktizieren ihren Yoga so, wie Prokrustes seine Gäste behandelte. Wir ziehen und strecken unseren Körper so lange, bis wir die perfekte Form des Asana erreichen, ein Idealbild, das wir uns entweder vorstellen oder auf einer Titelseite eines Magazins gesehen haben.
Zurück zum Herz-Sutra: Auf unsere Yogapraxis übertragen, fordert es unser Verständnis von Form heraus. Form führt zu Leere. Gemeint ist aber nicht Leere im Sinne von „Nichts“, sondern vielmehr ein lichterfüllter, offener Raum, ein Gefühl der Weite und des Sich-Wohl-Fühlens, das sich durch die Form ergibt. Eine Freiheit, die sich innerhalb einer festen Struktur Platz schafft. Um diese Freiheit zu erlangen, müssen wir den Mut finden, die Form so zu adaptieren, dass sie für uns stimmt. Dies ist nicht so einfach, denn viele von uns trauen sich schlicht nicht oder sind zu autoritätsgläubig, um konventionelle Formen und Strukturen infrage zu stellen. Wenn wir aber wirklich daran interessiert sind, Freiheit zu finden, sollten wir dazu bereit sein, die Form zu biegen, […]