Manchmal scheint es fast verwunderlich, wie aktuell die Inhalte der Yoga-Philosophie heute noch sind. Ziemlich oft haben wir auch ein intuitives Gefühl dafür, wie weitreichend diese Inhalte sind. Und trotzdem ist es nicht immer leicht eine Anwendung im Alltag zu finden. Deshalb möchte ich in diesem Beitrag explizit über das WIE sprechen. Wie können wir die tiefen Weisheiten des Yoga in unser Leben integrieren? Und wie können wir uns in schwierigen Situationen daran erinnern? In diesem Beitrag geht es um einen Vers aus Patanjalis Sutras, der unser spirituelles Leben bereichern kann, aber auch eine Unterstützung für unsere alltäglichen Herausforderungen ist.
„abhyāsa-vairāghyabhyam tannirodhah“
Dieser Vers bedeutet übersetzt in etwas Folgendes:
Auch wenn der Inhalt an sich schon Sinn macht und man eine Ahnung davon bekommt, was er bedeuten kann, so gibt es dennoch viele Einzelheiten und verborgene Details. Deshalb möchte ich explizit auf die einzelnen Wortstämme in dem Vers eingehen und sie näher erläutern. Denn erst dann wird die Magie so richtig deutlich und auch die ganz konkrete Anwendbarkeit im Leben kann sich erst dann völlig entfalten.
- Was soll genau geübt werden?
- Was bedeutet Loslösung wirklich?
- Und was sind Fluktuationen des Bewusstseins?
Um die Botschaft des Verses wirklich verstehen zu können, muss man diese drei Bestandteile verstehen.
Die Fluktuationen des Bewusstseins
Beginnen wir mit den „Fluktuationen des Bewusstseins“, mit denen wir uns laut Patanjali nicht mehr identifizieren sollen. Die Fluktuationen des Bewusstseins sind jedoch nicht nur Gedanken, sondern auch Emotionen und im Allgemeinen alle inneren Zustände. So unterschiedlich diese auch sein können, eines haben sie alle gemeinsam: Sie alle kommen und gehen. Keine innere Verfassung bleibt unverändert. Wichtig ist auch zu bemerken, dass die Fluktuationen nicht als negativ oder störend beschrieben werden. Gedanken, Gefühle und allerlei Stimmungen sind nicht per se schlecht oder unnütz. Problematisch wird es nur, wenn wir anfangen zu glauben, dass wir diese Gedanken oder Emotionen sind. Wir müssen uns also dessen bewusst sein, dass sich Gedanken und Emotionen ständig verändern, weshalb sie hier auch Fluktuationen genannt werden. Unser wahres Selbst, das wir im Kern sind, muss also etwas anderes sein. Die Fluktuationen sind das Vergängliche. Und damit unterscheiden sie sich deutlich von unserem Wesenskern, der in seiner Essenz nämlich unveränderlich ist. Immer dann, wenn wir uns mit diesen flüchtigen Aspekten identifizieren, entsteht eine Art Trugschluss und damit auch Leid, da wir diese fälschlicherweise für unser Selbst halten.
In allen Schriften von Patanjali geht es letztendlich darum, den wahren Kern unseres Wesens zu entdecken. Deshalb spricht er eben auch explizit von den Dingen, die uns im Weg stehen und gibt Ratschläge damit umzugehen. Wenn wir nämlich andauernd damit beschäftigt sind uns mit Gedanken und Emotionen zu identifizieren, dann bleibt eben auch wenig Raum dafür, uns mit dem zu beschäftigen, was uns wirklich ausmacht. Jede spirituelle Praxis enthält deshalb immer zwei Aspekte: Das Loslassen, von dem, was man nicht ist und das sich Hingeben an das, was uns im Seelenkern ausmacht.
Die zwei Prinzipien Abhyasa & Vairagya
Der andere Teil des Verses beschäftigt sich explizit mit dem WIE. Wie können wir aufhören uns mit Situationen, Gefühlen und Gedanken zu identifizieren? Abhyasa und Vairagya heißen die zwei Aspekte, die uns helfen sollen mit diesen Identifikationen aufzuhören. Was genau diese beiden bedeuten, erkläre ich in den folgenden Abschnitten.
Vairagya, das Nicht-Anhaften
Zu Vairagya finden sich verschiedene Übersetzungen und Interpretationen. Die gängigsten sind: Nicht-Anhaftung, Loslösung und auch Gleichgültigkeit. Mit Nicht-Anhaftung ist gemeint, dass wir uns selbst mit keinen Gegebenheiten im außen identifizieren. Wir dürfen alles erleben und alles empfinden und sind trotzdem davon verschieden. Wir sind nicht identisch mit dem, was wir denken oder was uns widerfährt. Wenn wir das verinnerlicht haben, dann müssen wir weder angenehme Situationen suchen noch unangenehme meiden. Diese Loslösung schenkt uns die Freiheit und jede Menge Gelassenheit, die sich einstellt, da wir die Abhängigkeit von äußeren Begebenheiten gehenlassen können. Hierauf bezieht sich auch die andere mögliche Übersetzung von Vairagya, nämlich Gleich-gültigkeit. Wir können uns nämlich von unterschiedlichen Gedanken, nur innerlich frei machen, wenn wir nicht mehr in richtig und falsch unterscheiden, sondern in dem wir ihnen generell keine Macht über uns geben. Gedanken und Situationen können dann in unserem Leben aufkommen, wären dann aber gleichermaßen gültig. Gedanken sind dann nur Gedanken, egal ob sie positiv oder negativ sind. Unser Wesen ist in jedem Fall von ihnen verschieden.
Wenn uns bewusst wird, dass Gedanken in unterschiedlichen Formen auftreten können, und dass wir trotzdem von ihnen verschieden sind, dann ist es auch nicht mehr ganz so wichtig, welche Gedanken überhaupt aufkommen. Dann wird mit der Zeit die Präsenz unseres Wesens oder unserer Seele viel spürbarer, weil sie dadurch in den Fokus rückt. Einfach nur weil wir uns durch das Beenden der Identifikation dafür öffnen.
Abhyasa – Die Übung
Das ständige Üben, auf das Abhyasa hinweist, ist unsere Nummer 1 Hilfestellung, wenn wir kurz davor sind, den Mut zu verlieren oder vor schwierigen Situationen stehen. Alles, was wir im Leben meistern wollen und so auch das Nicht-Anhaften, will geübt werden. Übung bedeutet jedoch nicht nur, sich nicht zu schnell entmutigen zu lassen, sondern auch bedingungslos zu sich zu stehen. Diese Art der Bedingungslosigkeit bedeutet, dass man sich frei und ohne Bedingungen und damit auch ohne Wertung an eine Sache dran wagen kann. Ohne Bedingung heißt auch, dass es nicht immer wichtig ist, ob wir etwas richtig oder falsch machen. In der Übung geht es eben ums Üben selbst, nicht darum, ob man es sofort richtig macht. Das Dranbleiben und die Kontinuität sind viel wichtiger als das Outcome! Hier wird deutlich, dass das Nicht-Bewerten und Nicht-Anhaften, die eher zum Aspekt Vairagya gehören, auch hier zum Tragen kommen.
Überhaupt greifen alle drei Aspekte von Nicht-Anhaftung, ständiger Übung und das Nicht-Identifizieren mit externen Aspekten und den Fluktuationen des Bewusstseins ineinander: Jeder Aspekt unterstütz den anderen auf ideale Weise. Wir können eine neue Fähigkeit oder Gewohnheit viel besser üben, wenn wir uns nicht mit dem Ergebnis identifizieren und unser Wesen unabhängig davon betrachten. Im Grunde lässt sich dieser Vers aber auch auf jede Situation, jede Interaktion im Leben übertragen. Die Loslösung vom Ergebnis, ein wertfreier Blick sowie die Kontinuität dieser beiden ist eine Bereicherung für alles, was wir tun.