Während einer Auszeit in Indien, im Winter 2019, erfährt unser Gastautor Reiner Angermeier die yogische Leichtigkeit des Seins nicht nur in seinen Yogastunden, sondern auch, während seines Frühstücks am Strand von Goa, oder vielleicht sogar gerade dann. Eine kleine Träumerei vom Urlaub in Indien …
Jetzt, hier, genau in diesem Augenblick geschieht Yoga
1.1, atha yoganusanam
Ich sitze gerade in einem Restaurant in Arambol, Goa, und blicke auf die unendliche Weite des Meeres. Ich spüre, wie die warme Brise vom Meer her sanft meine Haut berührt. Ich betrachte staunend dieses millionenfache Glitzern auf der Meeresoberfläche. In weiter Ferne bewegt sich ein Fischerboot scheinbar im Schneckentempo. Meine Ohren vernehmen gleichzeitig das Meeresrauschen und ein Mantra mit Gitarrenbegleitung im Hintergrund: „Hare Rama, Hare Krishna“.
Ein Bewusstsein für Yoga entfaltet sich in dem Moment, wo der Sog der Gedanken zur Ruhe kommt
1.2, yogas citta vritti nirodhah
Ich lasse meine Gedanken einfach weiter ziehen. Vor mir mein Frühstück: Papaya Lassi und Alu Paratha. Indien selbst definiert sich für mich allein durch seinen Geschmack und seinen Geruch. Manch einer, der schon einmal so auf den Geschmack gekommen ist, wird das bestätigen können. Ich bereite mich vor, immer mehr zur Ruhe zu kommen. Und doch kommt mir gerade wieder ein Gedanke in den Sinn: „Was fehlt in diesem Augenblick?“ Mir fällt nichts ein. Ich sehe mich um. Ob sich das die anderen Gäste im Restaurant auch gerade fragen? Ich glaube eher nicht und wenn, dann suchen sie jedenfalls die Antwort mehrheitlich über ihre kleinen Bildschirme. Ich übe mich nun weiter darin, die Gedanken einfach ziehen zu lassen und blicke dabei auf die unendliche Weite des Meeres.
Eine Asana sollte still und fein ausgeführt werden
2.46, sthira sukham asanam
Ich sitze bequem auf einem Podest mit einem niedrigen Tisch vor mir. Das linke Bein nach vorn ausgestreckt, das rechte angewinkelt mit der Fußsohle an meinem Oberschenkel. Mein Rücken ist aufrecht an das Kissen hinter mir angelehnt. So sitze ich oft. Wenn ich „das Sehen“ auch nach innen richte, kann ich das Fließen in meinem Körper wahrnehmen. Je feiner ich das tue, desto stiller wird es in mir. Die Stille ist eine Kraft, die ich deutlich in mir fühlen kann. Jetzt hier, genau in diesem Augenblick, während ich hier sitze und sanft den Blick schweifen lasse.
Wenn du den Körper so fühlen kannst, heben sich die Gegensätze von Übererregung und Spannungslosigkeit einfach auf
2.48, prayatna saithilyânanta samâpattibhyâm
Die Kraft der Stille entfaltet sich weiter in meinem Körper. Ich fühle mich lebendig. Ich bin ganz wach. Hier und da geht das Fließen in meinem Körper in ein sanftes Vibrieren über. Es gibt nichts weiter zu tun. Ich spüre die Spannkraft in meinem Körper und habe nicht das geringste Bedürfnis, meine Haltung irgendwie anders auszudrücken. Vor meinen Augen landet ein Kingfisher auf den Klippen. Das farbenprächtige Gefieder des Vogels hat mich schon immer in den Bann gezogen. Richtet er sich gerade, wie ich, auf diese feine Wahrnehmung des Seins aus, oder entspricht es vielmehr seiner Natur, sich ständig in diesem Gewahrsein zu bewegen?
Zwischen Ein-und Ausatmung befindet sich ein spezieller Raum, hier erfährst du das Vierte, weder innen noch außen
2.51, bâhyâbhyantara-visayâksepî caturthah
Ich atme ein – ich atme aus. In der Pause dazwischen scheint nichts zu passieren. Das Gefühl von Leere breitet sich in meinem Bewusstsein aus. Ich sitze weiter einfach nur da und schaue, was passiert. Es geschieht dann ganz von alleine, ohne mein Zutun – ich atme ein. Der Impuls kommt irgendwo von da unten in meinem Körper.
In der Lücke füllt sich die Leere mit der Stille – oder ist es umgekehrt? Ich weiß es nicht, und es ist auch nicht wichtig. Ich atme aus und lasse ganz natürlich den Atemfluss versiegen. Stille. Der Kingfisher regt sich mit keiner Feder.
Die Vollkommenheit des Körpers zeigt sich in seiner Schönheit und Anmut, seiner Stärke, Kraft und ganzen Präsenz
3.46, tato ‘ñimâdi-prâdur-bhâvah kâya-sampat taddharmânabhighâtasca
Meine Atmung ist im Fluss. Von unten kommt eine Kraft, die mich sanft schweben lässt, die mich weiter aufrichtet und wahrhaftig macht. Ich kann die Ausdehnung, die Weite fühlen. Ich kann die Erde unter mir spüren, wie sie gleichfalls in Resonanz mit mir schwingt. Die Zeit ist stehen geblieben, und doch nehme ich wahr, wie sich das Meer sanft in kleinen Wellen fortlaufend bewegt. Es ist ein sehr vertrautes Gefühl, in das ich da tiefer eintauche. Der Kingfisher, gerade eben noch vollkommen regungslos, dreht leicht den Kopf nach links, hebt ab und taucht pfeilschnell in das Meer. Kurze Zeit später landet er mit einem kleinen Fisch im Schnabel auf der nächsten Klippe. Ich tue es ihm gleich, nehme einen großen Schluck aus meinem Papaya Lassi und lasse mir das Alu Paratha schmecken. Gerade eben, beim Frühstück, in Indien.