Über den unvergessenen indischen Dichter, der die unmittelbare Erfahrung als jedem Menschen zugänglichen Weg zur Befreiung hervorhob und mit seiner undogmatischen Spiritualität Kastengrenzen und religiöse Unterschiede aufhob.
Zu Beginn des 15. Jahrhunderts lebte im nordindischen Varanasi ein außergewöhnlicher Mensch. Er war von Beruf Weber, er war ein Freigeist und ein Yogi, doch vor allem war er eines: ein Poet. Sein Name war Kabir, er stammte aus einer der untersten Kasten, hatte keinen Zugang zu Bildung, und dennoch hatte er einen so scharfen Intellekt, dass er Schriftgelehrte und Brahmanen mit seinen Worten zum Zittern brachte.
Das meiste, was über die Person Kabir gesagt wird, gehört ins Reich der Legenden, gesicherte Fakten gibt es nur wenige. Man nimmt an, dass er 1398 in Varanasi geboren wurde und 1448 in Maghar verstarb. Als sicher gilt, dass er den Julahas, einer muslimischen Weberkaste, angehörte. Eine von vielen Legenden über Kabirs Leben sagt, dass er als Sohn einer Brahmanen-Witwe, die ihn jungfräulich empfing, geboren wurde. Sie wandte sich jedoch von ihrem Sohn ab und gab ihn in die Obhut einer jungen Muslimin namens Nima, die mit einem Weber verheiratet war. Das Paar zog den Jungen gemeinsam auf. Es heißt, dass Kabir später ein Schüler von Ramananda, einem bekannten Vaishnava-Guru wurde. Kabir hatte ein brennendes Interesse an Spiritualität und fühlte sich zum Bhakti-Marga, dem Weg der Hingabe, hingezogen. Da er als Angehöriger der unteren Kasten jedoch keine Chance hatte, von einem Guru als Schüler angenommen zu werden, bediente er sich eines Tricks. Kabir wusste, dass Ramananda jeden Morgen in der Dämmerung an den Ghats von Varanasi ein rituelles Bad im Ganges nahm. Eines Nachts, noch vor dem Morgengrauen, legte er sich auf eine der Stufen, die zum Ganges hinunterführten. Da es dunkel war, war er kaum zu sehen, und als Ramananda sein Bad nehmen wollte, stolperte er über Kabir. Erschrocken rief er laut „Ram Ram!“ Diesen Ausruf nahm Kabir als Einweihung in das Mantra Ram an und sagte zu Ramananda: „Du hast mich in deine Tradition initiiert, nun bin ich dein Schüler.“ Ramananda war beeindruckt von dem Herzblut, mit der Kabir lernen wollte. Er sah ihm die List nach und nahm ihn als Schüler an.
So schön diese Geschichte klingt, ist wahrscheinlich auch sie eine […]