Brauchen wir im Yoga die Erleuchtung?
„Eckard, bist du eigentlich erleuchtet?“ Noch deutlich kann ich mich an diese Frage eines Kursteilnehmers bei einer Weiterbildung in Yogaphilosophie erinnern. Ein Yogalehrer sollte seiner Meinung nach erleuchtet sein oder zumindest höhere Bewusstseinsebenen erreicht haben. Andere Teilnehmer des gleichen Kurses sahen dies anders. Sie verstanden Yoga nicht als Weg zur Erleuchtung, sondern als Hilfe gegen ihre Rückenschmerzen, Kopfschmerzen oder Schlafstörungen. Sie wollten nicht in höhere Bewusstseinswelten abdriften, sondern in dieser Welt fitter und leistungsfähiger werden. Brauchen wir im Yoga die Erleuchtung?
Der erleuchtete Yogameister
Für viele Yogis gilt Erleuchtung als das große Endziel des Yogaweges. Kaum jemand würde dabei sich selbst als erleuchtet bezeichnen. Als erleuchtet gilt in der Regel nur der von seinen Anhängern verehrte Meister. Manche dieser Meister erzählen von ihrer Erleuchtungserfahrung und beschreiben dann oft eine plötzlich entstandene Eingebung, einen Durchbruch durch das Alltagsbewusstsein in höhere Bewusstseinszustände, die sich dem normalen Erfahren und Denken entziehen. Dass der eigene Meister in diesem Sinne erleuchtet ist, bedeutet für seine Anhänger meist sehr viel. Die Erleuchtungserfahrung bildet gerade den Beweis dafür, dass der Meister mit Recht als Meister verehrt werden darf. Als Beleg seiner Einsicht in höhere Bewusstseinswelten gelten nicht selten auch seine Visionen oder andere paranormale Fähigkeiten, die gerne von Schüler zu Schüler weitererzählt werden.
Geschichte des Wortes Erleuchtung
Blickt man in die indische Tradition, so muss man allerdings feststellen, dass der Begriff „Erleuchtung“ im Yoga weder Verwendung fand noch bekannt ist. Der Ursprung der Lichtmetaphorik zur Bezeichnung höherer Erkenntnisformen ist nicht im Osten, sondern in der westlichen Kultur zu orten. Die Wurzeln des Begriffs findet man in der antiken Philosophie bei Platon und seinen späteren christlichen Nachfolgern. Insbesondere der Kirchenvater Aurelius Augustinus prägte im 4. Jahrhundert n. Chr. mit seiner Rede von der illuminatio (Latein: Erleuchtung) das christliche Verständnis von Erleuchtung als Aufleuchten der Einsicht in die göttliche Wahrheit in den Tiefen menschlicher Existenz.
Im Laufe der Jahrhunderte wurde der Begriff Erleuchtung in diesem platonischen/christlichen Sinn jedoch immer mehr vergessen. Im Englischen hat sich in der Neuzeit sogar eine philosophische Bedeutung durchgesetzt. Spricht man im englischsprachigen Raum heute vom „age of enlightenment“, so versteht man hierunter meist das „Zeitalter der Aufklärung“, also die Epoche, die im 17. und 18. Jahrhundert mit […]