Yoga – spirituelle Praxis oder Hilfe, den heutigen Stress zu bewältigen?
Der Vorwurf trifft schwer: Die Faszination der westlichen Kultur für den modernen Körperyoga habe zu einer Perversion der Tradition des Yoga geführt. Das Fitnessstudio könne nicht der Ort sein, an dem Yoga im ursprünglichen Sinn geübt werden sollte. Eine einst spirituelle Disziplin werde so durch den Westen in ein Fitnesstraining mit Body-Workout umgewandelt. Andere halten jedoch dagegen. Yoga für unsere heutige Zeit darf sich nicht auf jenseitige Welten ausrichten, sondern muss helfen, unsere ganz diesseitigen Probleme zu bewältigen. Wir brauchen heute keine mystischen Erfahrungen, sondern wollen fit werden, um mit den Belastungen der modernen Welt umgehen zu können. Wem ist Recht zu geben? Sollen wir Yoga als spirituelle Praxis üben oder als Hilfe nutzen, den heutigen Stress zu bewältigen?
Yoga für das Jenseits
Viele erleben die westliche Kultur als oberflächlich, ausschließlich auf die materiellen Werte der Leistungsgesellschaft orientiert. Schon seit der Zeit der Romantik blickt das Abendland so gerne nach Osten, dorthin, wo bekanntlich das Licht der Sonne aufgeht und vielleicht auch das Licht der Erleuchtung. Heilung vom Sinnverlust der Moderne wird aus dem fernen Indien erhofft, wo die Menschen, so glaubt man, schon seit Urzeiten den echten Yoga üben. Im Yoga der indischen Tradition wird der Leuchtturm gesehen, der uns in den Stürmen der verweltlichten Kultur des Westens die Richtung weisen kann. Für viele Menschen ist so die Unterscheidung zwischen dem auf Geld und materielle Werte orientierten Westen und dem aus erleuchteter Weisheit lebenden Osten ein lieb gewordener Gedanke geworden.
Wer jedoch heute nach Indien fährt, stößt zwar in den hinduistischen Tempeln überall auf ein lebendiges, religiöses Leben. Die Straßen von Mumbai, Delhi oder Kalkutta sind jedoch eher von Lärm und Luftverschmutzung geprägt als von Spiritualität und Erleuchtung. Selbst die Begeisterung größerer Bevölkerungsschichten im heutigen Indien für Yoga ist kaum mehr als 20 Jahre alt. Das ursprüngliche Wissen um Yoga war auch in Indien vergessen worden. Man kannte das Wort Yoga, verband damit aber Askese und Weltentsagung. Wenn Yoga geübt wurde, dann fast ausschließlich als asketische Praxis, um sich für jenseitige Welten zu öffnen. Noch heute kann man in Höhlen des Himalaya den manchmal nur mit Asche bekleideten Asketenyogis begegnen. Mit ihnen wollte und will aber auch […]