Brauchen wir im Yoga den Rückbezug auf die Tradition?
Nur der traditionelle Yoga Indiens ist der wahre und authentische Yoga. Wir haben das Glück, dass dieser authentische Yoga, wie ihn die großen Meister lehrten und wie er in den heiligen Texten verbürgt ist, in langen Traditionslinien bis heute überliefert wurde und sich so über Jahrtausende bewährt hat. Wer so denkt, für den mussten die Ergebnisse der modernen Yogaforschung wie ein Schock gewirkt haben. Hier stellte man fest, dass Yoga, wie er heute geübt wird, erst im 20. Jahrhundert entstanden ist. Die Traditionslinien seien genauso erfunden wie der Glaube an eine Praxis, die sich über Jahrtausende gehalten habe. Brauchen wir im Yoga heute tatsächlich noch den Rückbezug auf die Tradition?
Tradition wird ganz unterschiedlich verstanden
Um eine fundierte Antwort geben zu können, muss man sich erst bewusst machen, dass unter dem Begriff „Tradition“ sehr unterschiedliche Dinge verstanden werden. Erkundigt man sich bei einem Yoga-Übenden, den man bisher noch nicht kannte: „Nach welcher Tradition übst du?“, kann man Antworten hören wie „Iyengar Yoga“, „Jivamukti Yoga“ oder „Yoga nach Desikachar“. Der Begriff „Tradition“ wird hier im Sinne von Yogastil oder Yogaschule verwendet. Einen vollkommen anderen Umgang mit dem Begriff finden wir dagegen im traditionellen Indien. Dort geht es bei der Yogatradition nicht um einen Übungsstil. Tradition meint Überlieferung, genauer gesagt eine ganz besondere Form von Überlieferung. Im Sanskrit spricht man von „guru-shishya-parampara“, von der ununterbrochenen „Meister-Schüler-Traditionslinie“. Tradition meint die Überlieferung der Lehre des Yoga, indem der eigene Lehrer genau das lehrt, was er von seinem Lehrer erlernt hat, der in gleicher Weise das von seinem Lehrer erfahrene Wissen weitergab usw. Diese Linie reicht bis zu einem großen Lehrer der Vergangenheit zurück. Dass die Überlieferung in einer solchen Meister-Schüler-Traditionslinie geschieht, hat für das traditionelle Indien eine enorme Bedeutung.
Tradition als Qualitätsnachweis und Autorität
Als Qualitätsnachweis für Yogalehrer im Westen gilt allgemein eine mehrjährige Ausbildung, die mit einem Zertifikat bestätigt wird, das von einem bedeutenden Yogaverband anerkannt ist. In Indien, zumindest im traditionellen Indien, ist dies ganz anders. Dort dient als Qualitätsnachweis eines Yogalehrers seine Zugehörigkeit zu einer Traditionslinie. Sie kann dem Schüler die Garantie geben, dass sein Lehrer durch seine Anbindung an die Tradition den wahren, das heißt den ursprünglichen Yoga lehrt, wie er in alten Zeiten entdeckt wurde. Wenn das nicht reicht, wird gerne noch auf einen als heilig geltenden Text der Tradition als Autorität verwiesen. Hierfür dienen vor allem die Yoga-Sutras des Patanjali. Oft wird eine Überlieferungslinie noch weiter zurück bis zum Veda genannt, der ältesten Sammlung heiliger Texte des Hinduismus. Besonders der Veda gilt dem gläubigen Hindu bis heute als Quelle für alles, was gut und wahr ist. Wenn es sich beim Yoga um einen der bedeutendsten Schätze der indischen Kultur handelt, dann muss Yoga selbstverständlich auch im Veda zu finden sein.
Wenn so zum Beispiel T. Krishnamacharya im 20. Jahrhundert viele der heute praktizierten Yoga-Übungen neu erfand oder wenn er, ganz entgegen der indischen Tradition, auch Frauen oder Kastenlose zum Yoga-Unterricht zuließ, so hätte demnach eigentlich ein Sturm der Entrüstung entstehen müssen. Krishnamacharya sagte jedoch: „Alles, was ich unterrichte, habe ich von meinem Lehrer gelernt“ oder „Diejenigen kennen die Yogaschriften nicht, die sagen, Yoga sollte nicht von Frauen oder Kastenlosen praktiziert werden“. Seinen revolutionären Neuerungen wurde die Autorität der Tradition verliehen. Seine Schüler konnten sich voll Vertrauen auf den von ihm gelehrten Yogaweg einlassen, in der Gewissheit, den ursprünglichen und echten Yoga zu üben, wie er ihn von seinem Lehrer erlernt hat und wie er in den alten Texten verbürgt ist.
Die Tradition als Qualitätsnachweis und Autorität wurde jedoch nicht nur für die indischen Schüler wichtig. Nach der Desillusionierung des modernen Fortschrittsglaubens keimte auch bei vielen Menschen im Westen die Hoffnung auf, dass in den alten Traditionen Indiens das ursprüngliche Wissen zu finden sei, das der modernen Kultur verloren gegangen ist. Auch westlichen Yogaschülern gibt der Glaube, in einer über tausende Jahre andauerten Tradition zu stehen, in denen sich die Wirkungen des Yoga immer wieder bewährt haben, ein Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit. Man konnte sich sicher sein, mit Yoga in Indien nun endlich den richtigen Weg gefunden zu haben.
Die Frage der Nachweisbarkeit
Im Unterschied zu dem so beschriebenen traditionellen Yoga pflegt die moderne Yogaforschung einen grundsätzlich anderen Ansatz. Hier geht es nicht mehr darum, Yogaschülern das Vertrauen zu geben, dass sie sich auf dem richtigen Weg befinden. In der Yogaforschung steht nicht mehr der Glaube an Yogamythen, sondern die Nachweisbarkeit im Mittelpunkt. Man stellte sich Fragen wie: „Sind die Übungen, die wir heute als Yoga bezeichnen, in den alten Texten nachweisbar?“ oder: „Sind die Traditionslinien konkret zu belegen?“ Moderne Yogaforscher begannen, in den alten, aber auch in jungen Texten nachzulesen. Sie benutzten nicht nur Übersetzungen, sondern die Originale auf Sanskrit, und schauten sich nicht nur einzelne Worte, sondern auch den Zusammenhang an. Die Ergebnisse waren frappierend. Es zeigte sich, dass Yoga als Lebensweg zwar schon sehr früh in Texten der indischen Kultur beschrieben wurde. Yoga, wie wir ihn heute praktizieren, war jedoch weder im Veda noch in den Yoga-Sutras nachzuweisen. Erst spät in der Geschichte des Yoga wurden die heute so wichtigen Körperübungen der Asanas beschrieben, wobei man unter Asana zunächst sogar nur Sitzhaltungen verstand. Und als dann endlich in den Texten Asanas als Körperhaltungen auftauchen, waren es in den meisten Fällen nicht die Übungen, die wir heute als Yoga bezeichnen. Die Adelung des Kopfstands zum König aller Yoga-Übungen ist so zum Beispiel erst im 20. Jahrhundert nachzuweisen. Der heute so populäre Sonnengruß entstand zunächst außerhalb des Yoga als Turn- und Fitnesspraxis und wurde gleichfalls erst im letzten Jahrhundert in den Yoga aufgenommen. Weder eine von Anfang an existierende, meist mit der Zahl 84 angegebene verbindliche Zahl von Asanas war nachweisbar, noch irgendeine ununterbrochene Traditionslinie.
Solche Forschungsergebnisse wollte nun nicht jeder hören. Man sollte jedoch die Kirche im Dorf lassen. Den Niedergang des Yoga wird die moderne Wissenschaft wohl kaum einleiten. Wer am Glauben an die uralte, heilige Tradition des Yoga festhalten will, der sollte sich allerdings vom Seziermesser der Nachweisbarkeit fernhalten. Das Seziermesser der Nachweisbarkeit stellt den Glauben an liebgewonnene Yogamythen in Frage. Es eröffnet jedoch auch ganz neue Möglichkeiten.
Das Feuer der Tradition entfachen
Die moderne Yogaforschung mag für viele desillusionierend wirken. Traditionelle Wahrheiten des Yoga werden als Glaube entlarvt. Die Forschung kann jedoch auch dazu anregen, sich über den eigentlichen Sinn des Yoga Gedanken zu machen. Bei aller Bedeutung der Tradition als Qualitätsnachweis entsteht die Qualität des Yoga doch nicht durch das Festhalten, sondern durch das Leben der Tradition.
Die Yogalehre der alten indischen Texte und der Yogameister kann mit Schatzkarten verglichen werden. Manche dieser Wege zum Schatz des Yoga sind für uns heute nicht mehr gangbar, manche müssen verändert werden, manche sind heute noch hilfreich, und manche müssen neu geschrieben werden. Alle diese Schatzkarten des Yoga haben jedoch eines gemeinsam: Der hier aufgezeigte Schatz ist nie in den Karten selbst zu finden. Die Tradition gibt ausschließlich Wegweisungen, den Schatz des Yoga tief verborgen in uns selbst zu entdecken. Yoga als Weg der Bewusstheitsschulung ist nur dann wirksam, wenn er von uns selbst konkret und praktisch gegangen wird. Der authentische Yoga ist nicht in der Vergangenheit der Tradition, nicht im Veda, nicht in den Yoga-Sutras und auch nicht in den Traditionslinien zu finden. Nicht durch den Rückbezug auf die Tradition, sondern durch die eigene Praxis in der Gegenwart wird der authentische Yoga lebendig.
Brauchen wir im Yoga den Rückbezug auf die Tradition? Wenn durch die Tradition nur die Asche überliefert würde, bräuchten wir den Rückbezug auf die Tradition mit Sicherheit nicht. Im Yoga ist das Feuer wichtig. Und das Feuer des Yoga muss immer wieder in jedem Einzelnen von uns neu entfacht werden. Hilfreich ist die Vergangenheit der Tradition jedoch als das Brennmaterial und manchmal sogar als der Funke, um das Feuer der Bewusstheit und Achtsamkeit im Hier und Jetzt zu entfachen.
Zum Weiterlesen:
Eckard Wolz-Gottwald: Yoga-Weisheit leben. Philosophische Übungen für die Praxis, Verlag Via Nova, Petersberg 2009