Jedes einzelne Asana ist ein unglaublich kostbarer Schatz. Sie wirken auf so vielfältige Weise auf unser gesamtes Wesen. Und doch gibt es ein Haltung, die unsere ganz besondere Aufmerksamkeit verdient und die wie ein Katalysator die positive Wirkung aller anderen Asanas multiplizieren und zu tiefer Stille und Klarheit führen kann – die Rede ist von Shavasana.
Sie kommt so unscheinbar und simpel daher, die Totenstellung. „Regungslos auf dem Rücken liegen, wie langweilig!“, mag man denken. Shavasana als kleines Schläfchen nach dem „eigentlichen“ Yoga abzutun, würde diesem kraftvollen Asana jedoch nicht gerecht werden.
Im Moment still sein
In Shavasana liegen wir bewegungslos in Rückenlage auf dem Boden. Die Arme sind neben dem Körper platziert, die Handflächen zeigen zum Himmel. Die Füße sind etwas weiter als hüftbreit auseinander, die Zehen fallen locker nach außen. Das Becken ruht entspannt auf dem Boden. Der Nacken ist lang, die Gesichtszüge werden weich, die Augen sind sanft geschlossen. Wir geben das ganze Gewicht unseres Körpers vollkommen an die Erde ab, die uns sicher trägt.
Der Atem fließt frei und harmonisch, der Herzschlag verlangsamt sich. Nach und nach entspannt sich jeder einzelne Muskel und der Körper kommt mehr und mehr zur Ruhe. In diesem Moment des Loslassens und der achtsamen Hingabe, kehren wir uns von den äußeren Reizen ab und richten den gesamten Fokus nach innen. All die Energie, die wir normalerweise für die Außenwelt aufwenden, wird nun nach innen geleitet. Genau hier findet die Magie des Shavasana statt: Wenn der Körper erst einmal Ruhe gefunden hat, dringen wir vor zu den tieferen Ebenen des Seins – wo auch der Geist Stille finden kann.
In Shavasana geben wir uns die Zeit und den Raum, die durch die vorangegangene Yogapraxis angestoßenen positiven Veränderungen zu manifestieren. Wir integrieren die gemachten Erfahrungen in unser Bewusstsein und Unterbewusstsein. Stell dir vor dein Körper ist wie ein Computer: Wenn ein wichtiges Update heruntergeladen wird, dann braucht der PC auch erst einmal Zeit, um die neuen Informationen zu verarbeiten.
Das Zusammenspiel von Körper und Geist
Zwei Aspekte sind bei Shavasana entscheidend: sich möglichst nicht zu bewegen und mit der Achtsamkeit völlig präsent zu bleiben. Durch das stille Liegen nimmt die Zahl der Nervenimpulse, die an die Muskulatur gesendet wird, mehr und mehr ab. Bei jeder noch so kleinen Bewegung wird jedoch wieder eine neuronale Aktivität ausgelöst, die die Entspannung unterbricht. Darum leg dich zu Beginn deiner Entspannung so hin, dass du dich nicht mehr bewegen musst.
Der physische Körper liegt zwar still und regungslos in einer Position, aber der Geist ist wachsam – jedoch ruhig. Es handelt sich bei Shavasana um eine aktive (Geistes-) Haltung. Um mit der Achtsamkeit völlig präsent zu bleiben, kann man verschiedenen Techniken anwenden, sich zum Beispiel ganz auf den Atem fokussieren oder eine geführte Muskelentspannung praktizieren. Wenn der Geist durch Konzentration fokussiert ist, ist die Chance einzuschlafen geringer. Zudem wird die Energie gezielt durch den Körper geleitet. Wir trainieren unseren Geist, der im Alltag so gerne unbeobachtet umherwandert, ganz im Moment und fokussiert zu sein.
Tiefe Entspannung setzt erst dann ein, wenn auch der Geist zur Ruhe gekommen ist. Aber was kannst du tun, wenn sich die Gedanken in deinem Kopf überschlagen? Meine Nase juckt. Wie lange soll ich hier noch liegen? War ich gerade eingeschlafen? Was koche ich heute zum Abendessen? Solche Gedanken tauchen bei vielen Yogis während der Endentspannung auf. Eins ist sicher: Du kannst dich nicht zwingen, das Gedankenkarussell zu stoppen. Hierdurch entsteht nur noch mehr Unruhe. Was du tun kannst, ist ohne Wertung einfach wieder zurückzukehren in den jetzigen Moment und deine Achtsamkeit wieder zu deinem Konzentrationspunkt, z.B. den Atem, zu lenken. Verurteile dich nicht dafür, wenn dich Gedanken aus der Gegenwart weggetragen haben. Lass dein Shavasana zu einem Raum ganz frei von Bewertungen und Urteilen werden, zu einer Zeit der bedingungslosen Selbstakzeptanz. Und vergiss nicht: Genau wie jedes andere Asana auch, erfordert Shavasana jede Menge Übung.
Shavasana – heute wichtiger denn je
In vielen Yogaklassen wird Shavasana meist am Ende einer Stunde in der Endentspannung eingesetzt. Leider wird die Entspannungsphase jedoch oftmals zu Gunsten der „aktiveren“ Asanas verkürzt. Doch gerade in einer Zeit, in der wir Menschen ständig aktiv und in Bewegung, vermehrt äußeren Reizen und einer gewaltigen Informationsflut ausgesetzt sind und somit das Nervensystem bei vielen chronisch überstimuliert und der Körper in Dauer-Alarmbereitschaft ist, darf Shavasana gerne noch mehr in den Fokus rücken!
Heute ist mein Shavasana zu einem ganz besonders geschätzten Teil meiner Hatha-Yoga-Praxis geworden und darüber hinaus zu meinem Anker im Jetzt, zu einem sicheren Zuhause, in dem ich Frieden finde. Das war jedoch längst nicht immer so. Lange Zeit fiel mir das stille Liegen unglaublich schwer, und von meinen Yogaschülerinnen weiß ich, dass Shavasana für viele eine große Herausforderung darstellt – gerade zu Beginn der Yogapraxis. Sich selbst liebevoll zu zügeln und in einen Modus des „Nichtstuns“ zu kommen, erfordert einiges an Übung – und auch das Lösen von Denkmustern, die oft sehr tief in uns verwurzelt liegen.
Dauerstress ist in unserer Gesellschaft leider schon Alltag geworden. Symptome wir Erschöpfung, Schlaflosigkeit oder Nervosität werden als Normalzustand akzeptiert. Doch sie sind es nicht! Wir alle kennen Stress. Aber kennen wir auch den Zustand der Entspannung? Geh auf die Bedürfnisse deines Körpers liebevoll ein. Höre ihm gut zu. Wenn es um dich herum still wird, dann kannst du besser hören.
Shavasana als innere Haltung
In Shavasana kommen wir zur Ruhe, lassen los und vertrauen uns dem Moment an. Hierdurch lernen wir, einfach nur zu SEIN. Mit jedem bewussten Atemzug sinken wir tiefer in die Entspannung und finden Zugang zu dem Frieden, der in uns liegt.
Vielleicht magst du Shavasana nicht als etwas betrachten, was du am Ende deiner Yogapraxis tust. Werde Shavasana! Sei still, aber völlig präsent. Wenn du wieder aufstehst, nimm die Ruhe und den Frieden mit in den Rest deines Tages, mit in den Alltag, mit in dein Leben jenseits der Yogamatte. Wenn du Shavasana verinnerlichst, dann wird es – genau wie potenziell jedes andere Asana auch, das du in dein alltägliches Leben überführst – zum wichtigsten aller Asanas: Es wird zu deiner Lebens-Haltung.