Vom Schein zum Sein – Gleichgewicht ist eine Frage des Übens, und Śayanāsana ist die ultimative Herausforderung für den Gleichgewichtssinn
Śayana heißt Ruhestätte. Die Weltenschlange, Âdiśeṣa oder Anantaśeṣa, schwimmt, der Mythologie zufolge, zusammengerollt im Ozean der noch nicht manifesten Welt. Auf ihm ruht Gott Viṣnu. Entrollt sich Âdiśeṣa, so entfaltet sich das gesamte Universum. Rollt sie sich wieder in sich zusammen, so vergeht auch die gesamte Schöpfung. Viṣnu, der Gott der Erhaltung, bewahrt die Welt, solange Âdiśeṣa entfaltet ist. Die Ruhestätte von Viṣnu steht so im Zentrum eines wunderschönen Schöpfungsmythos.
Die Natur des Gleichgewichts
Unser Gleichgewicht ist über fein regulierte Reflexbögen gesteuert. Kleinste Kippbewegungen aus dem Gleichgewicht werden registriert. Über blitzschnell gesteuerte Muskelreaktionen wird der Körperschwerpunkt über seinem Fundament gehalten. Im aufrechten Stehen funktioniert dies meist so gut, dass wir uns dessen nicht bewusst sind. Aber schon im einbeinigen Stand zeigt unser Wackeln die für die Balance nötigen Ausgleichreaktionen. Die gute Nachricht: Auch Gleichgewicht kann man fördern, indem man es immer wieder übt. Je öfter du eine Gleichgewichtshaltung wiederholst, desto ruhiger wird sie.
Das Gleichgewicht verbessern – am Beispiel Śayanāsana
Śayanāsana ist wohl eine der schwersten Balancehaltungen überhaupt. Wir befinden uns kopfüber und balancieren auf der winzigen Auflagefläche unserer Ellbogen. Egal, an welcher Gleichgewichtshaltung du dich versuchst, funktioniert es jedoch immer nach den gleichen Regeln. Um das Gleichgewicht zu verbessern, muss sich die Verschaltung in unserem Nervensystem an die neue Körperhaltung anpassen. Dafür sind neue Nervenverbindungen nötig. Kurz gesagt: Wir brauchen eine Strukturveränderung im Gehirn!
Im sportwissenschaftlichen Sinn sprechen wir von Training, wenn sich die Struktur eines Körpersystems auf einen äußeren Reiz folgend verändert. So wie Liegestütze Training für die Muskeln sind, weil sie deren Aufbau ändern, sind Gleichgewichtshaltungen Training für das Gehirn. Jedes Training läuft nach drei Schritten ab:
1. Herausforderung eines Körpersystems:
Möchtest du die Arme kräftigen, dann kannst du Liegestützen machen und so die Muskeln herausfordern. Eine Gleichgewichtshaltung kannst du nutzen, um deine Gleichgewichtssteuerung herauszufordern.
2. Regeneration mit Superkompensation:
Nach der Herausforderung ist das Körpersystem zunächst schwächer als vorher. Du kannst beispielsweise nicht gleich wieder noch mehr Liegestütze ausführen. Auch beim Üben von Gleichgewichtshaltungen wird sich nach einiger Zeit eine gewisse Erschöpfung einstellen, und du beginnst mehr zu wackeln. Diese Phase wird als Erschöpfung bezeichnet.
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